Aus dem Bechterew-Brief Nr. 74 (September 1998) und Nr. 75 (Dezember 1998)

 

Über das Gerücht vom selteneren Vorkommen und "milderen" Verlauf des Morbus Bechterew bei weiblichen Patienten

Ein Ergebnis der DVMB-Repräsentativbefragung im Jahre 1996

von Prof. Dr. rer. nat. Ernst Feldtkeller, Redaktion Bechterew-Brief, München

"Ein Morbus Bechterew kann das bei Ihnen nicht sein, denn Sie sind eine Frau und bei Frauen gibt es keinen Morbus Bechterew", sagt der Chefarzt seiner prominenten Patientin. "Wieso?" unterbricht ihn die assistierende Krankenschwester. "Ich bin schließlich auch eine Frau und habe Morbus Bechterew".
Diese wahre Begebenheit zeigt: Früher hielt man den Morbus Bechterew bei Frauen für äußerst selten. Heute liest man meist, dass männliche Morbus-Bechterew-Patienten etwa 2–3 mal so häufig sind wie weibliche, und auch unter den DVMB-Mitgliedern beträgt das Verhältnis immer noch etwa 2 zu 1. Außerdem wird häufig darauf hingewiesen, dass der Morbus Bechterew bei weiblichen Patienten im allgemeinen milder verläuft als bei männlichen.
Die Morbus-Bechterew-Forscher Professor S. van der Linden und Professor M. A. Khan wiesen schon 1985 darauf hin, dass die Iliosakralgelenks-Entzündung (meist der Beginn eines Morbus Bechterew) bei Männern und Frauen nahezu gleich häufig vorkommt, dass sich die Krankheit bei Frauen aber langsamer entwickelt, mit weniger im Röntgenbild sichtbarem Befall der Wirbelsäule, dass deshalb die Prognose (Vorhersage) für Frauen günstiger ist, dass aber bei Frauen häufiger die Diagnose und damit auch die richtige Therapie verpasst wird (Bechterew-Brief Nr. 58 S. 15–18).

Anteil weiblicher Patienten früher und heute

Im Jahre 1996 führte die DVMB eine große Patientenbefragung durch. 1614 Patienten mit Morbus Bechterew  füllten einen 15-seitigen Fragebogen aus. Auch unter den antwortenden Patienten waren ziemlich genau zwei Drittel männlich und ein Drittel weiblich. Schaut man sich jedoch das Verhältnis in Abhängigkeit vom Jahr der Diagnose an, so sieht man folgende überraschende Entwicklung (Bild 1): Unter den vor 1960 diagnostizierten Patienten ist nur jeder zehnte weiblich. Das Verhältnis nähert sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt der Gleichverteilung, und unter den erst kürzlich diagnostizierten Morbus-Bechterew-Patienten ist ungefähr die Hälfte weiblich. Das Gesamtverhältnis von 2 zu 1 ist also ein Durchschnittswert, der sich aus einer Mittelung über das frühere Überwiegen männlicher Patienten und die heutige Gleichverteilung ergibt.

Anteil weiblicher Patienten an allen in einem Jahr diagnostizierten Morbus-Bechterew-Patienten in Abhängigkeit vom Jahr der Diagnose
Bild 1: Anteil weiblicher Patienten an allen in einem Jahr diagnostizierten
Morbus-Bechterew-Patienten in Abhängigkeit vom Jahr der Diagnose.

Wie kam es zu dieser Veränderung im Lauf der Jahrzehnte? Erkranken heute mehr Frauen als früher am Morbus Bechterew? Oder hat sich die Diagnostik verbessert, und weibliche Patienten werden heute nicht mehr so leicht übersehen? Welche Symptome sind es, die eine eindeutige Diagnose "Morbus Bechterew" bei männlichen Patienten erleichtern? Und wie steht es um den "milderen" Verlauf bei Frauen? Um diesen Fragen nachzugehen, wollen wir uns die geschlechtsbedingten Unterschiede im Krankheitsverlauf an Hand der Ergebnisse der DVMB-Patientenbefragung (Bechterew-Brief Nr. 69 bis 73) genauer ansehen.

Langsamere und weniger vollständige Versteifung

Die Häufigkeit der verschiedenen Krankheitsstadien (also der Versteifungsgrade) in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer ist, getrennt nach Geschlechtern, im Bild 2 dargestellt. Deutlich sieht man, dass weibliche Patienten im Mittel langsamer und weniger vollständig versteifen als männliche: 15 Jahre nach den ersten Spondylitis-Symptomen befinden sich 12% der männlichen Patienten bereits im Stadium IV, aber nur 2% der weiblichen Patienten. Nach 30 Krankheitsjahren sind es 37% der männlichen, aber nur 17% der weiblichen Patienten. Die Anteile der Stadien I und II sind bei den weiblichen Patienten entsprechend größer als bei männlichen, ebenso der Anteil, der lebenslang im Stadium II oder III bleibt.

Bild 2: Verteilung der 868 männlichen und 405 weiblichen Morbus-Bechterew-Patienten,
die die entsprechenden Fragenbeantworteten, auf die Krankheitsstadien in Abhängigkeit
von der Dauer seit Auftreten der ersten Symptome. Weibliche Patienten versteifen im
Mittel erheblich langsamer und weniger vollständig als männliche
Bild 2: Verteilung der 868 männlichen und 405 weiblichen Morbus-Bechterew-Patienten,
die die entsprechenden Fragenbeantworteten, auf die Krankheitsstadien in Abhängigkeit
von der Dauer seit Auftreten der ersten Symptome. Weibliche Patienten versteifen im
Mittel erheblich langsamer und weniger vollständig als männliche

Offensichtlich war es dieser Unterschied, der die Diagnose früher bei weiblichen Patienten erschwerte. Die knöcherne Wirbelüberbrückung im Röntgenbild war früher ausschlaggebendes Kriterium für die Diagnose Morbus Bechterew. Dies führte noch in den 60er Jahren bei weiblichen Patienten zu vielen Fehldiagnosen, zu einer längeren mittleren Diagnoseverzögerung (Bechterew-Brief Nr. 69 S. 6) und dazu, dass viele Patientinnen trotz der starken Schmerzen lebenslang nicht die richtige Diagnose erfuhren und nicht sachgemäß behandelt wurden. Heute ermöglichen neue Früherkennungskriterien auch ohne Wirbelsäulen-Veränderungen im Röntgenbild eine sichere Diagnose entzündlicher Wirbelsäulenerkrankungen (siehe Bechterew-Brief Nr. 53 S. 8–17).
Die Diagnoseverzögerung (die Zeitspanne zwischen den ersten Krankheitssymptomen und der richtigen Diagnose) ist heute bei weiblichen Morbus-Bechterew-Patienten im Mittel kaum länger als bei männlichen Patienten, während sie in den 50er Jahren für männliche Patienten durchschnittlich 13 und für weibliche Patienten durchschnittlich 20 Jahre betrug.

Krankheitsverlauf insgesamt keineswegs "milder"

Ob die Krankheit bei weiblichen Patienten "milder" verläuft, ist aber nicht in erster Linie eine Frage der Versteifungsgeschwindigkeit, wenn auch die Versorgungsbehörden den "Grad der Behinderung" hauptsächlich nach dem Grad der knöchernen Versteifung bemessen (Bechterew-Brief Nr. 70 S. 10–13). Zur Schwere des Krankheitsverlaufs tragen vor allem die Schmerzen bei, aber auch z. B. die Beteiligung von Hüft-, Schulter oder Knie-Gelenken, häufige Regenbogenhautentzündungen oder die Notwendigkeit einer orthopädischen Operation. In welchem Umfang weibliche im Vergleich zu männlichen Patienten von solchen Auswirkungen der Krankheit betroffen sind, ist in der Tabelle 1 zusammengestellt.

Tabelle 1: Häufigkeit verschiedener Indikatoren für einen schweren Krankheitsverlauf unter männlichen bzw. weiblichen  Spondylitis-ankylosans-Patienten. 
Signifikant ungünstigere Werte sind rot unterlegt
  männliche Patienten weibliche Patienten
subjektiver Gesundheitszustand weniger gut oder schlecht 54,2 % 55,4 %
Schmerzen stark oder sehr stark 27,5 % 32,6 %
bei Alltagsverrichtungen ziemlich oder sehr behindert 29,9 % 33,9 %
Krankheitsstadium IV (Spät- oder Endstadium) 23,0 % 8,4 %
regelmäßige Medikamenteneinnahme 40,7 % 40,9 %
keine antirheumatischen Medikamente nötig 18,1 % 12,3 %
regelmäßig oder gelegentlich nichtsteroidale Antirheumatika 65,2 % 69,2 %
Magen-/Darmgeschwüre 10,5 % 9,3 %
regelmäßig oder gelegentlich Corticosteroide 11,8 % 21,8 %
regelmäßig oder gelegentlich Azulfidine 7,6 % 12,7 %
mittlere Anzahl der Iritis-Attacken 3,09 3,12
mittlere Anzahl der Iritis-Attacken pro Krankheitsjahr 0,126 0,159
Hüft- oder Kniebeteiligung 55,8 % 57,9 %
Wirbelsäulenaufrichtungs-Operation 1,2 % 0,8 %
Hüftgelenks-Operation 4,0 % 2,3 %

Wie man in Tabelle 1 sieht, sind weibliche Patienten nur bei der Versteifungsgeschwindigkeit im Mittel signifikant günstiger dran als ihre männlichen Mitpatienten. Hinsichtlich der Schmerzen und des damit zusammenhängenden Medikamentenbedarfs sind weibliche Patienten sogar signifikant schlechter dran. Vor allem die nur bei heftigen Schmerzschüben verordneten Corticosteroide und das bei einem insgesamt schweren Verlauf verordnete Basistherapeutikum Sulfasalazin (z. B. Azulfidine®, siehe Bechterew-Brief Nr. 48 S. 16–18 und Nr. 71 S. 24) wurden bei weiblichen Patienten signifikant häufiger verschrieben als bei männlichen.

Ausbrennen nach langer Krankheitsdauer?

Wie die Stärke der Schmerzen bei männlichen und weiblichen Spondylitis-ankylosans-Patienten von der Krankheitsdauer abhängt, ist im Bild 3 zu sehen. In diesem Bild überrascht, dass der Anteil mit starken oder sehr starken Schmerzen zwar bei männlichen Patienten nach langer Krankheitsdauer deutlich zurückgeht, bei weiblichen Patienten jedoch weiter ansteigt.

Bild 3: Verteilung der 922 männlichen und 478 weiblichen Spondylitis-ankylosans-Patienten, welche die entsprechenden Fragen beantworteten, auf unterschiedliche Schmerzstärken in Abhängigkeit von der Dauer seit dem Auftreten der ersten Spondylitis-Symptome. Bei männlichen Patienten geht der Anteil mit starken Schmerzen nach 40 Krankheitsjahren auf etwa die Hälfte zurück, während bei weiblichen Patienten die Häufigkeit starker Schmerzen eher noch zunimmt.
Bild 3: Verteilung der 922 männlichen und 478 weiblichen Spondylitis-ankylosans-Patienten,
welche die entsprechenden Fragen beantworteten, auf unterschiedliche Schmerzstärken in
Abhängigkeit von der Dauer seit dem Auftreten der ersten Spondylitis-Symptome. Bei
männlichen Patienten geht der Anteil mit starken Schmerzen nach 40 Krankheitsjahren auf
etwa die Hälfte zurück, während bei weiblichen Patienten die Häufigkeit starker Schmerzen
eher noch zunimmt.

Ein ähnlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern zeigt sich auch in der Abhängigkeit des Medikamentenbedarfs von der Krankheitsdauer: Auch der Anteil mit regelmäßiger oder gelegentlicher Einnahme antirheumatischer Medikamente geht bei männlichen Patienten nach langer Krankheitsdauer deutlich zurück, bei weiblichen Patienten dagegen nicht. Dasselbe gilt für den Anteil der Patienten, bei denen dazu cortisonhaltige Mittel gehören. Da diese Mittel bei Spondyloarthritis-Patienten nur im Falle einer hohen Entzündungsaktivität verordnet werden, bedeutet dies, dass auch die Ärzte eine unverändert hohe Entzündungsaktivität nach langer Krankheitsdauer häufiger bei weiblichen Patienten beobachten.
Auch die Häufigkeitsverteilung des von den Patienten angegebenen Ausmaßes ihrer Behinderung im Alltag zeigt einen ähnlich unterschiedlichen Verlauf. Wie zu erwarten, gilt dies nicht für den amtlicherseits bestätigten "Grad der Behinderung", denn dieser wird vorwiegend auf Grund der Röntgenaufnahmen zugeteilt und folgt somit eher dem Bild 2.

Schlussfolgerungen

Die Patientenbefragung der DVMB erbrachte eine Fülle weiterer Erkenntnisse, die in dem Buch "Zur Situation von Spondyloarthritis-Patienten – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der Deutschen Vereinigung Morbus Bechterew" zusammengestellt sind. Für den Unterschied im Krankheitsverlauf zwischen männlichen und weiblichen Patienten mit Morbus Bechterew oder einer anderen entzündlichen Wirbelsäulenerkrankung können wir folgendes festhalten:

  1. Die Rede vom "milderen" Krankheitsverlauf bei weiblichen Morbus-Bechterew-Patienten spiegelt nicht das ganze Ausmaß der Betroffenheit wider. Starke Schmerzen und ernsthafte Begleiterkrankungen sind bei weiblichen Patienten mindestens so häufig wie bei männlichen.
  2. Weibliche Morbus-Bechterew-Patienten versteifen im Mittel wesentlich langsamer und weniger vollständig als männliche Patienten.
  3. In der Häufigkeit des Morbus Bechterew scheint es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen zu geben. Die langsamere Ausbildung im Röntgenbild sichtbarer Wirbelsäulenveränderungen bei weiblichen Patienten führte jedoch in früheren Jahrzehnten zu vielen Fehldiagnosen, zu einer längeren mittleren Diagnoseverzögerung und dazu, dass viele weibliche Morbus-Bechterew-Patienten trotz starker Schmerzen lebenslang nicht die richtige Diagnose erfuhren und deshalb auch nicht sachgemäß behandelt werden konnten.
  4. Ein "Ausbrennen" der Entzündungsaktivität nach langer Krankheitsdauer scheint es fast nur bei männlichen Patienten mit ihrer rascheren und vollständigeren Versteifung zu geben.
Bechterew-Brief Ende

Anschrift des Verfassers: Michaeliburgstr. 15, 81671 München

Zwei ausführliche wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Literaturhinweisen erschienen in der Zeitschrift "Aktuelle Rheumatologie", Jahrgang 23 (1998) S. 145–153 und S.  176–181