Ein Ergebnis der DVMB-Repräsentativbefragung im Jahre 1996
von Prof. Dr. rer. nat. Ernst Feldtkeller, Redaktion , München
"Ein Morbus Bechterew kann das bei Ihnen nicht sein,
denn Sie sind eine Frau und bei Frauen gibt es keinen Morbus Bechterew",
sagt der Chefarzt seiner prominenten Patientin. "Wieso?" unterbricht ihn
die assistierende Krankenschwester. "Ich bin schließlich auch eine
Frau und habe Morbus Bechterew".
Diese wahre Begebenheit zeigt: Früher hielt man den Morbus Bechterew
bei Frauen für äußerst selten. Heute liest man meist, dass
männliche Morbus-Bechterew-Patienten etwa 2–3 mal so häufig sind
wie weibliche, und auch unter den DVMB-Mitgliedern beträgt das Verhältnis
immer noch etwa 2 zu 1. Außerdem wird häufig darauf hingewiesen,
dass der Morbus Bechterew bei weiblichen Patienten im allgemeinen milder
verläuft als bei männlichen.
Die Morbus-Bechterew-Forscher Professor S. van der Linden und Professor
M. A. Khan wiesen schon 1985 darauf hin, dass die Iliosakralgelenks-Entzündung
(meist der Beginn eines Morbus Bechterew) bei Männern und Frauen nahezu
gleich häufig vorkommt, dass sich die Krankheit bei Frauen aber langsamer
entwickelt, mit weniger im Röntgenbild sichtbarem Befall der Wirbelsäule,
dass deshalb die Prognose (Vorhersage) für Frauen günstiger ist,
dass aber bei Frauen häufiger die Diagnose und damit auch die richtige
Therapie verpasst wird (Bechterew-Brief Nr. 58 S. 15–18).
Im Jahre 1996 führte die DVMB eine große Patientenbefragung durch. 1614 Patienten mit Morbus Bechterew füllten einen 15-seitigen Fragebogen aus. Auch unter den antwortenden Patienten waren ziemlich genau zwei Drittel männlich und ein Drittel weiblich. Schaut man sich jedoch das Verhältnis in Abhängigkeit vom Jahr der Diagnose an, so sieht man folgende überraschende Entwicklung (Bild 1): Unter den vor 1960 diagnostizierten Patienten ist nur jeder zehnte weiblich. Das Verhältnis nähert sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt der Gleichverteilung, und unter den erst kürzlich diagnostizierten Morbus-Bechterew-Patienten ist ungefähr die Hälfte weiblich. Das Gesamtverhältnis von 2 zu 1 ist also ein Durchschnittswert, der sich aus einer Mittelung über das frühere Überwiegen männlicher Patienten und die heutige Gleichverteilung ergibt.
Wie kam es zu dieser Veränderung im Lauf der Jahrzehnte? Erkranken heute mehr Frauen als früher am Morbus Bechterew? Oder hat sich die Diagnostik verbessert, und weibliche Patienten werden heute nicht mehr so leicht übersehen? Welche Symptome sind es, die eine eindeutige Diagnose "Morbus Bechterew" bei männlichen Patienten erleichtern? Und wie steht es um den "milderen" Verlauf bei Frauen? Um diesen Fragen nachzugehen, wollen wir uns die geschlechtsbedingten Unterschiede im Krankheitsverlauf an Hand der Ergebnisse der DVMB-Patientenbefragung (Bechterew-Brief Nr. 69 bis 73) genauer ansehen.
Die Häufigkeit der verschiedenen Krankheitsstadien (also der Versteifungsgrade) in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer ist, getrennt nach Geschlechtern, im Bild 2 dargestellt. Deutlich sieht man, dass weibliche Patienten im Mittel langsamer und weniger vollständig versteifen als männliche: 15 Jahre nach den ersten Spondylitis-Symptomen befinden sich 12% der männlichen Patienten bereits im Stadium IV, aber nur 2% der weiblichen Patienten. Nach 30 Krankheitsjahren sind es 37% der männlichen, aber nur 17% der weiblichen Patienten. Die Anteile der Stadien I und II sind bei den weiblichen Patienten entsprechend größer als bei männlichen, ebenso der Anteil, der lebenslang im Stadium II oder III bleibt.
Offensichtlich war es dieser Unterschied, der die Diagnose
früher bei weiblichen Patienten erschwerte. Die knöcherne Wirbelüberbrückung
im Röntgenbild war früher ausschlaggebendes Kriterium für
die Diagnose Morbus Bechterew. Dies führte noch in den 60er Jahren
bei weiblichen Patienten zu vielen Fehldiagnosen, zu einer längeren
mittleren Diagnoseverzögerung (Bechterew-Brief Nr. 69 S. 6)
und dazu, dass viele Patientinnen trotz der starken Schmerzen lebenslang
nicht die richtige Diagnose erfuhren und nicht sachgemäß behandelt
wurden. Heute ermöglichen neue Früherkennungskriterien auch ohne
Wirbelsäulen-Veränderungen im Röntgenbild eine sichere Diagnose
entzündlicher Wirbelsäulenerkrankungen (siehe Bechterew-Brief
Nr. 53 S. 8–17).
Die Diagnoseverzögerung (die Zeitspanne zwischen
den ersten Krankheitssymptomen und der richtigen Diagnose) ist heute bei
weiblichen Morbus-Bechterew-Patienten im Mittel kaum länger als bei
männlichen Patienten, während sie in den 50er Jahren für
männliche Patienten durchschnittlich 13 und für weibliche Patienten
durchschnittlich 20 Jahre betrug.
Ob die Krankheit bei weiblichen Patienten "milder" verläuft, ist aber nicht in erster Linie eine Frage der Versteifungsgeschwindigkeit, wenn auch die Versorgungsbehörden den "Grad der Behinderung" hauptsächlich nach dem Grad der knöchernen Versteifung bemessen (Bechterew-Brief Nr. 70 S. 10–13). Zur Schwere des Krankheitsverlaufs tragen vor allem die Schmerzen bei, aber auch z. B. die Beteiligung von Hüft-, Schulter oder Knie-Gelenken, häufige Regenbogenhautentzündungen oder die Notwendigkeit einer orthopädischen Operation. In welchem Umfang weibliche im Vergleich zu männlichen Patienten von solchen Auswirkungen der Krankheit betroffen sind, ist in der Tabelle 1 zusammengestellt.
männliche Patienten | weibliche Patienten | |
---|---|---|
subjektiver Gesundheitszustand weniger gut oder schlecht | 54,2 % | 55,4 % |
Schmerzen stark oder sehr stark | 27,5 % | 32,6 % |
bei Alltagsverrichtungen ziemlich oder sehr behindert | 29,9 % | 33,9 % |
Krankheitsstadium IV (Spät- oder Endstadium) | 23,0 % | 8,4 % |
regelmäßige Medikamenteneinnahme | 40,7 % | 40,9 % |
keine antirheumatischen Medikamente nötig | 18,1 % | 12,3 % |
regelmäßig oder gelegentlich nichtsteroidale Antirheumatika | 65,2 % | 69,2 % |
Magen-/Darmgeschwüre | 10,5 % | 9,3 % |
regelmäßig oder gelegentlich Corticosteroide | 11,8 % | 21,8 % |
regelmäßig oder gelegentlich Azulfidine | 7,6 % | 12,7 % |
mittlere Anzahl der Iritis-Attacken | 3,09 | 3,12 |
mittlere Anzahl der Iritis-Attacken pro Krankheitsjahr | 0,126 | 0,159 |
Hüft- oder Kniebeteiligung | 55,8 % | 57,9 % |
Wirbelsäulenaufrichtungs-Operation | 1,2 % | 0,8 % |
Hüftgelenks-Operation | 4,0 % | 2,3 % |
Wie man in Tabelle 1 sieht, sind weibliche Patienten nur bei der Versteifungsgeschwindigkeit im Mittel signifikant günstiger dran als ihre männlichen Mitpatienten. Hinsichtlich der Schmerzen und des damit zusammenhängenden Medikamentenbedarfs sind weibliche Patienten sogar signifikant schlechter dran. Vor allem die nur bei heftigen Schmerzschüben verordneten Corticosteroide und das bei einem insgesamt schweren Verlauf verordnete Basistherapeutikum Sulfasalazin (z. B. Azulfidine®, siehe Bechterew-Brief Nr. 48 S. 16–18 und Nr. 71 S. 24) wurden bei weiblichen Patienten signifikant häufiger verschrieben als bei männlichen.
Wie die Stärke der Schmerzen bei männlichen und weiblichen Spondylitis-ankylosans-Patienten von der Krankheitsdauer abhängt, ist im Bild 3 zu sehen. In diesem Bild überrascht, dass der Anteil mit starken oder sehr starken Schmerzen zwar bei männlichen Patienten nach langer Krankheitsdauer deutlich zurückgeht, bei weiblichen Patienten jedoch weiter ansteigt.
Ein ähnlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern zeigt
sich auch in der Abhängigkeit des Medikamentenbedarfs von der Krankheitsdauer:
Auch der Anteil mit regelmäßiger oder gelegentlicher Einnahme
antirheumatischer Medikamente geht bei männlichen Patienten nach langer
Krankheitsdauer deutlich zurück, bei weiblichen Patienten dagegen
nicht. Dasselbe gilt für den Anteil der Patienten, bei denen dazu
cortisonhaltige Mittel gehören. Da diese Mittel bei Spondyloarthritis-Patienten
nur im Falle einer hohen Entzündungsaktivität verordnet werden,
bedeutet dies, dass auch die Ärzte eine unverändert hohe Entzündungsaktivität
nach langer Krankheitsdauer häufiger bei weiblichen Patienten beobachten.
Auch die Häufigkeitsverteilung des von den Patienten
angegebenen Ausmaßes ihrer Behinderung im Alltag zeigt einen ähnlich
unterschiedlichen Verlauf. Wie zu erwarten, gilt dies nicht für den
amtlicherseits bestätigten "Grad der Behinderung", denn dieser wird
vorwiegend auf Grund der Röntgenaufnahmen zugeteilt und folgt somit
eher dem Bild 2.
Die Patientenbefragung der DVMB erbrachte eine Fülle weiterer Erkenntnisse, die in dem Buch "Zur Situation von Spondyloarthritis-Patienten – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der Deutschen Vereinigung Morbus Bechterew" zusammengestellt sind. Für den Unterschied im Krankheitsverlauf zwischen männlichen und weiblichen Patienten mit Morbus Bechterew oder einer anderen entzündlichen Wirbelsäulenerkrankung können wir folgendes festhalten:
Anschrift des Verfassers: Michaeliburgstr. 15, 81671 München
Zwei ausführliche wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Literaturhinweisen erschienen in der Zeitschrift "Aktuelle Rheumatologie", Jahrgang 23 (1998) S. 145–153 und S. 176–181