Aus dem Bechterew-Brief Nr. 80 (März 2000)

Die Therapie des Morbus Bechterew mit Radium-224-Chlorid

von Prof. Dr. med. Ernst-Martin Lemmel, Chefarzt an der Max-Grundig-Klinik, Bühl, Ärztlicher Berater der DVMB

Prof. Dr. med. Wilhelm Koch, der erste Ärztliche Berater der DVMB († 1985), war berühmt wegen seiner Erfolge in der Behandlung des Morbus Bechterew mit dem radioaktiven Isotop Radium-224.
Im Bechterew-Brief Nr. 33 und im Heft 7 der DVMB-Schriftenreihe berichtet Professor Glöbel über einen Nutzen-/Risiko-Vergleich verschiedener Therapieformen beim Morbus Bechterew. Er stellte in seiner Schlussfolgerung die Radium-224-Therapie als wertvolle Alternative zur Therapie des Morbus Bechterew mit nichtsteroidalen Antirheumatika dar und empfahl, spätestens bei Abbruch einer NSAR-Therapie wegen Unverträglichkeitserscheinungen an eine Strahlentherapie mit Radium-224 zu denken.
Da diese Therapie jetzt in einer verbesserten Form wieder zu haben ist, bringen wir darüber den folgenden Bericht.

Die Geschichte der Radium-Therapie

Die Therapie mit Radium-224 wurde bis Mitte der 80er Jahre erfolgreich bei vielen tausend Patienten mit Morbus Bechterew eingesetzt. Leider stellte der damalige Hersteller – weltweit der einzige, der Radium-224 produzierte – damals die Produktion ein. Dies war aus Sicht der Rheumatologie und vieler Patienten, die durch diese Therapie eine langfristige Besserung ihrer Beschwerden erfahren hatten, sehr bedauerlich.
Jetzt hat jedoch ein neuer Arzneimittelhersteller die Produktion wieder aufgenommen. Die Altmann Therapie GmbH hat dazu in Salzgitter moderne Produktionsanlagen errichtet und bringt das Arzneimittel unter dem Namen Radiumchlorid [224Ra] wieder auf den Markt.

Das Wirkprinzip

Radium ist chemisch eng mit Kalzium verwandt. Er gehört wie Kalzium zu den "knochensuchenden Substanzen", d. h. es lagert sich fast ausschließlich im Skelett sowie in frischen Gewebsverkalkungen ein. Beim Morbus Bechterew sind die Zonen mit erhöhtem Kalziumstoffwechsel genau diejenigen, wo das krankhafte Geschehen stattfindet.
Radium-224 ist ein "Alpha-Strahler", d. h. es zerfällt unter Aussendung von Alpha-Teilchen, die im Gewebe eine sehr geringe Reichweite von nur ca. 0,050 mm haben, also dem zwanzigsten Teil eines Millimeters.
Der Wirkstoff zerfällt sehr schnell: nach 3,7 Tagen ist unter Laborbedingungen nur noch 50% der Ausgangsdosis vorhanden, im menschlichen Körper (unter Berücksichtigung der natürlichen Ausscheidung) nach 1,7 Tagen 50% und nach 5 Tagen nur noch ca. 10%.
Durch die schnelle Verteilung im Körper, die Anreicherung im kranken Gewebe, die geringe Reichweite der Strahlung und durch raschen Zerfall und Ausscheidung ist somit gewährleistet, dass sich die Wirkung im kranken Gewebe entfaltet und das gesunde Gewebe geschont wird.
Die Knochenneubildung am Ort der Entzündung wird durch aktivierte Entzündungszellen verursacht. Unter der Einwirkung von Radium-224 wird die krankhaft gesteigerte Knochenneubildung gestört. Gleichzeitig wird die örtliche Entzündungsaktivität blockiert. Damit kommt es zu einer meist langanhaltenden Schmerzlinderung oder gar zu einem Verschwinden der Schmerzen.
Die Wirkung hält meist über einen Zeitraum von vielen Jahren an. Radium-224 kann die Erkrankung zwar nicht heilen, aber in sehr vielen Fällen die Verknöcherung verlangsamen und die Schmerzen so erheblich reduzieren, dass dadurch die Menge der bisher eingenommenen Medikamente stark reduziert werden kann.

Die Durchführung der Therapie

Die Therapie wird in enger Zusammenarbeit zwischen Ihrem behandelnden Rheumatologen und einem Facharzt für Nuklearmedizin durchgeführt. Ihr Rheumatologe wird zunächst eine eingehende Untersuchung durchführen und Sie dann – falls er Ihnen beim Stand Ihrer Krankheit diese Therapie verordnet – zu einem Facharzt für Nuklearmedizin überweisen, denn nur dieser hat die Zulassung zum Umgang mit radioaktiven Substanzen und darf die Therapie durchführen.
Der Nuklearmediziner wird – nach einer Voruntersuchung – mit Ihnen bei insgesamt 10 Behandlungen im Abstand von jeweils 1 Woche die erforderliche Dosis des Arzneimittels in eine Armvene spritzen. Obwohl dieser Vorgang nur wenige Minuten dauert, ist es wichtig, dass Sie die Termine genau einhalten, da das Arzneimittel für jede Injektion eines jeden Patienten individuell zum richtigen Zeitpunkt hergestellt wird. Nur so ist gewährleistet, dass unter Berücksichtigung der Transportzeit und des Zeitpunkts der Injektion jeder Patient die richtige Dosis erhält. Sollte es Ihnen in Ihrer Behandlungszeit einmal unter gar keinen Umständen möglich sein, den vereinbarten Termin einzuhalten, sollten Sie sich deshalb möglichst frühzeitig mit Ihrem Nuklearmediziner in Verbindung setzen.
Nach den Vorschriften der Nuklearmedizin kann die Behandlung ambulant durchgeführt werden. Es kann jedoch vorkommen, dass auf Grund örtlich abweichender Regelungen für Sie eine stationäre Aufnahme für jeweils 24–48 Stunden notwendig wird. Zwischen den Injektionen können Sie ansonsten einen ganz normalen Tagesablauf planen.

Bild 1: Zunahme des Kyphosewinkels innerhalb von 5–10 Jahren nach Radium-224-Therapie (Gruppe 1) bzw. ohne Radium-Therapie (Gruppe2)
Bisherige Erfahrungen mit der Radium-Therapie

Die klinischen Erfolge der Radium-Therapie sind in zahlreichen wissenschaftlichen Studien belegt. Ich möchte hier exemplarisch eine Arbeit herausgreifen, die Jahn 1987 in der Zeitschrift "Aktuelle Rheumatologie" veröffentlichte. 93 Patienten, die die Radium-Therapie erhalten hatten, wurden über einen Zeitraum von 15 Jahren nachuntersucht und – im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Radium-Therapie – die Zunahme der Wirbelsäulenkrümmung gemessen. Bei beiden Gruppen wurde als Maß für die Wirbelsäulenkrümmung die Zunahme des "Kyphosewinkels" gemessen (Bild 1).
Das Ergebnis ist eindeutig: Bei Patienten mit Radium-Therapie (Gruppe 1) nahm die Wirbelsäulenkrümmung weit weniger zu als bei Patienten ohne Radium-Therapie (Gruppe 2). Durch die Therapie mit Radium-224 wird also die Verknöcherung verlangsamt.
Auch nach einem Zeitraum von 11 bis 15 Jahren nach der Radium-Therapie zeigte sich, dass die Wirbelsäulenkrümmung weiterhin um über 60% geringer war als bei Patienten ohne Radium-Therapie. Diese Studie zeigte auch, dass die Größe und Zahl der Syndesmophyten (der Knochenbrücken zwischen den Wirbeln) nach Radium-Therapie weit weniger zunahm als bei Patienten ohne diese Therapie.
Eine sehr fundierte zusammenfassende Stellungnahme zu den Wirkungen und Nebenwirkungen der Radium-Therapie findet sich im Beschluss der Strahlenschutzkommission der Bundesregierung. Sie führte im Auftrag des Gesundheitsministeriums eine sehr sorgfältige Nutzen-Risiko-Analyse für die Radium-224-Therapie beim Morbus Bechterew durch und kam dabei u.a. zu folgenden Ergebnissen:

Nebenwirkungen

Die Anwendung von Radium-224 in den letzten Jahrzehnten hat gezeigt, dass diese Therapie erstaunlich nebenwirkungsarm ist. Die unangenehmste und häufigste ist eine Verstärkung der Schmerzen in den ersten Tagen nach den ersten Injektionen, die oft bis zur fünften Injektion anhält. Ferner wurden Entzündungen der Regenbogenhaut (Iridozyklitis) und seltener Nesselsucht (Urtikaria), Gesichtsrötung, Schüttelfrost, Fieber und Übelkeit beschrieben. Schwere Unverträglichkeitsreaktionen (anaphylaktoide Reaktion) sind als Einzelfälle beschrieben.
Durch die Strahlung des Wirkstoffs besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass Tumoren induziert werden. Hierzu gibt es eine 1995 veröffentlichte Vergleichsstudie von R. R. Wick, der Morbus-Bechterew-Patienten über mehr als 20 Jahre nach einer Therapie mit Radium-224 beobachtete. Es wurden 1473 Patienten mit einer Gruppe von 1338 Patienten verglichen, die konventionell behandelt wurden. Insgesamt wurden in der Radium-224-Gruppe 118 Tumoren (das sind 8%), in der Kontrollgruppe 142 (11%) gefunden. Ein möglicherweise strahleninduzierter Unterschied ergab sich nur bei den Knochentumoren. Hier standen 4 in der Therapiegruppe einem einzigen in der Kontrollgruppe gegenüber. Auf Grund der Häufigkeit in der Gesamtbevölkerung waren in jeder Gruppe 1–3 Fälle erwartet worden. Ein diesbezügliches Risiko ist somit nicht sicher auszuschließen, erscheint jedoch als sehr gering.

Für welche Patienten kommt die Therapie in Frage?

Geeignet für diese Therapieform sind grundsätzlich alle Patienten mit Morbus Bechterew, deren Entzündungsaktivität zu behandlungsbedürftigen Schmerzen führt. Da eine fortgeschrittene Einsteifung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, sollte die Behandlung möglichst früh im Krankheitsverlauf erfolgen. Weniger geeignet sind Patienten, die die entzündliche Phase des Krankheitsverlaufs bereits hinter sich haben und bei denen die Schmerzen auf einer kyphosebedingten Fehlhaltung oder auf osteoporosebedingten Mikrofrakturen beruhen.
Ihr behandelnder Rheumatologe – und nur er! – kann nach sorgfältiger Diagnose und auf Grund seiner Kenntnis des Krankheitsverlaufs entscheiden, ob die Therapie bei Ihnen erfolgversprechend ist.

Ausblick

Die Therapie mit Radium-224 wird sicherlich in Zukunft wieder zu einer wichtigen Ergänzung des Therapiespektrums bei Morbus Bechterew werden. Von großer Bedeutung wird hierbei eine gute Zusammenarbeit der Fachärzte für Rheumatologie und Nuklearmedizin sein.
Entscheidend für die weitere Entwicklung der Krankheit wird sein, dass Sie – auch und gerade, wenn es zu einer Schmerzstillung kommt – in der Behandlung Ihres Rheumatologen bleiben. Nur so kann durch weitere therapeutische Maßnahmen, besonders durch Bewegungstherapie, eine langanhaltende Beschwerdelinderung und Erhaltung der Beweglichkeit erreicht werden.
Der Rheumatologe wird angehalten werden, eine Dokumentation des Krankheitsverlaufs vor und nach der Radium-224-Behandlung anzulegen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass bezüglich der Wirksamkeit und Sicherheit der Radium-224-Therapie die Erfahrungsbasis weiter verbreitert wird. Auch dafür wird Ihre Mitarbeit erbeten, unabhängig davon, ob die Therapie bei Ihnen zur Beschwerdefreiheit führt oder nicht.

Bechterew-Brief Ende