Aus dem echterew-Brief Nr. 85 (Juni 2001)

Pilotstudie zur Haltung von Morbus-Bechterew-Patienten

von S. D. M. Bot, M. Caspers, B. J. Van Royen, H. M. Toussaint und I. Kingma, Institut für Bewegungswissenschaften und Orthopädische Klinik der Freien Universität Amsterdam

Der Morbus Bechterew kann zur vollständigen Versteifung der Wirbelsäule führen, unter Umständen mit fixierter Kyphose (Krümmung nach vorn). Als Folge der Wirbelsäulenkyphose sind die Patienten nicht mehr in der Lage, bequem zu sitzen, zu stehen oder zu liegen. Besonders schwer betroffene Patienten sind nicht einmal mehr in der Lage, horizontal geradeaus zu blicken, mit entsprechend großen Problemen bei Alltagsaktivitäten.
Vom biomechanischen Standpunkt aus betrachtet, führt die Wirbelsäulenkyphose zu einer Vorwärts- und Abwärts-Verschiebung des Rumpfschwerpunkts. Wenn der Patient die übrige Haltung nicht entsprechend verändert, führt dies zugleich zu einer Vorwärts- und Abwärts-Verschiebung des Schwerpunkts des ganzen Körpers gegenüber der Standfläche (Bild 1a). Um den Körper im Gleichgewicht zu halten, muss der Patient die übrige Haltung verändern (Bild 1b). Wegen der versteiften Wirbelsäule kommen dafür nur die beweglichen Gelenke der unteren Gliedmaßen in Betracht: Streckung der Hüftgelenke, Beugung der Kniegelenke und Streckung der Fersengelenke zur Fußsohle hin.
Die Streckung der Fersengelenke ist in Bezug auf die Schwerpunkts-Rückverlagerung besonders wirkungsvoll, da eine geringere Winkeländerung genügt, um den Schwerpunkt wieder über die Standfläche zu bekommen. Sie verbessert jedoch kaum die Blickrichtung. Wenn die Hüftgelenke zur Kompensation der Wirbelsäulen-Kyphose gestreckt werden, ist dazu eine größere Winkeländerung notwendig. Trotzdem ist die Streckung der Hüftgelenke von Vorteil, weil sie eine Rückwärtskippung des Beckens und damit des ganzen Rumpfs bewirkt. Und je mehr der Rumpf nach hinten geschwenkt wird, desto größer wird das Blickfeld nach oben erweitert. Möglicherweise wird dadurch auch die Lendenwirbelsäule entlastet. Die Kompensation der Kyphose durch Streckung der Hüftgelenke kann jedoch unmöglich werden, wenn die Krankheit weiter fortschreitet.

Bild 1: Die Wirbelsäulen-Kyphose führt zu einer Vorwärts- und Abwärtsverschiebung des Rumpfschwerpunkts (Dreieck) und damit auch des Körperschwerpunkts (Kreissymbol) gegenüber der Standfläche (a).
Der Patient verändert seine Haltung, um den Schwerpunkt wieder über die Standfläche zu bekommen (b)
Bild 1: Die Wirbelsäulen-Kyphose führt zu einer Vorwärts- und Abwärtsverschiebung des Rumpfschwerpunkts (Dreieck) und damit auch des Körperschwerpunkts (Kreissymbol) gegenüber der Standfläche (a).
Der Patient verändert seine Haltung, um den Schwerpunkt wieder über die Standfläche zu bekommen (b)

Das Wissen darum, wie Morbus-Bechterew-Patienten die Verschiebung ihres Körperschwerpunkts ausbalancieren, kann entscheidend sein für die Entwicklung optimaler Behandlungsmethoden. Dies gilt sowohl für konservative Behandlungen (ohne Operation) als auch für chirurgische Eingriffe.
Bisher ist nie eine biomechanische Untersuchung durchgeführt worden, um die Haltung der Morbus-Bechterew-Patienten zu erforschen. Dies nachzuholen, war der Zweck dieser Pilotstudie.

Untersuchungsmethode

Vier männliche Morbus-Bechterew-Patienten im Alter von 28 bis 77 Jahren mit fortgeschrittener Wirbelsäulenkyphose, die eine Aufrichtungsoperation in Erwägung zogen, nahmen an der Studie teil. Voraussetzung zur Teilnahme war eine klassische Bambusstab-Wirbelsäule mit knöcherner Überbrückung der Wirbelzwischenräume durch Syndesmophyten. Einer der Patienten hatte außerdem bereits ein künstliches Hüftgelenk, ein anderer beiderseits eine schwere Hüftgelenkbeteiligung.
Die Patienten standen barfuß auf einer Kraftmessplatte und wurden gebeten, nacheinander die folgenden Haltungen einzunehmen, und zwar jeweils für einige Sekunden so bewegungslos und symmetrisch wie möglich:

  1. entspannt stehend,
  2. aufrecht stehend,
  3. mit maximaler Hüftstreckung und geraden Beinen,
  4. zwischen aufrecht und maximaler Hüftbeugung,
  5. mit maximaler Hüftbeugung,
  6. mit gebeugten Knien und horizontaler Blickrichtung, und
  7. mit maximal gestreckten Knien.

Die eingenommenen Haltungen wurden mit einem Videorecorder aufgenommen, und die Gewichtsverteilung auf der Kraftmessplatte wurde laufend mitgeschrieben.
Um die Haltung auf den Videoaufnahmen genau vermessen zu können, trug der Patient auf der Haut kontrastreiche Markierungen an bestimmten Stellen, die im Bild 2 zu sehen sind. Aus der Lage der Punkte konnte die Haltung der Füße, Unterschenkel, Oberschenkel, des Beckens, des Rumpfs, des Kopfs, der Ober- und Unterarme und der Hände genau ermittelt werden. Außerdem wurde die Körpergröße, das Körpergewicht und die Länge der erwähnten Körpersegmente gemessen. Die Schwerpunkte dieser Segmente konnten daraus errechnet werden.

Bild 2: Ort der Markierungen für die Haltungsmessung

Die Beugungs- und Streckwinkel der Hüft-, Knie- und Fußgelenke wurden mit den entsprechenden Winkeln von 18 gesunden Vergleichspersonen im Alter von 21–27 Jahren verglichen.

Mess-Ergebnisse

Der Streckwinkel des Hüftgelenks änderte sich bei den Patienten zwischen den Haltungen 1, 2 und 3 nur um 1–6°. Dies bedeutet, dass die Hüftgelenke schon in der entspannten Haltung maximal gestreckt waren. Auch in den Winkeln der Knie- und Fußgelenke wurde kein Unterschied zwischen den ersten 3 Haltungen beobachtet.
Bei 3 der 4 Patienten waren die Hüftgelenks-Winkel in der entspannten Haltung kleiner (Mittelwert 190°) als bei Gesunden (Mittelwert 206°). Die Kniegelenke waren stärker gebeugt (164°, 161° und 151°) als bei Gesunden (Mittelwert 175°). Als die Patienten aufgefordert wurden, eine Haltung einzunehmen, in der sie den Horizont sehen können, beugten sie die Knie noch stärker. Das von den Knien aufzubringende Drehmoment stieg dabei bei einem Patienten von 10 auf 94 Newtonmeter und bei einem anderen Patienten 37 auf 102 Newtonmeter. Nur ein Patient war in der Lage, den Horizont ohne kompensierende Bewegung zu sehen. Das Drehmoment im Knie des vierten Patienten wurde nicht gemessen.

Schlussfolgerungen

Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass die untersuchten Morbus-Bechterew-Patienten kaum noch in der Lage waren, ihre Hüftgelenke in entspannter Haltung zu strecken. Drei der untersuchten Patienten hatten in aufrechter Haltung sogar gebeugte Hüftgelenke. Sie konnten also die Wirbelsäulenkyphose nicht durch eine Streckung der Hüftgelenke kompensieren, um das Gleichgewicht zu behalten.
Wenn die Hüftstreckung zu sehr eingeschränkt ist, bleibt den Patienten nur noch die Möglichkeit, das Gleichgewicht mit Hilfe einer Beugung der Knie- und Fußgelenke aufrechtzuerhalten. Das Stehen mit gebeugten Knien erfordert aber eine beträchtliche Anspannung der Oberschenkel-Muskulatur, was zu einer schnelleren Ermüdung beim Stehen führt. Noch größer wird die Anstrengung, wenn die Patienten die Knie beugen müssen, um waagerecht geradeaus blicken zu können.

Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig das Training der Hüftstreckung bei der Bewegungstherapie ist.
Sie zeigen außerdem, dass unter Umständen durch eine Operation der Hüftgelenke eine Aufrichtungsoperation der Wirbelsäule umgangen werden kann.

 

Bechterew-Brief Ende

Anschrift der Verfasser:
Faculty of Human Movement Sciences Free University of Amsterdam, Van der Boechorststraat 9, 1081 BT Amsterdam, Niederlande

Quelle:
Rheumatology  38 (1999) 441–443 (dort mit Literaturverzeichnis)
mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press
Leicht gekürzte Übersetzung durch Ernst Feldtkeller

Zum gleichen Thema siehe auch Dr. D. Becker-Capeller „Die Haltung des Morbus-Bechterew-Patienten“, Bechterew-Brief Nr. 56 S. 13–16.
Dort ging es vor allem auch um die Auswirkung der Iliosakralgelenk-Entzündung auf die Haltung im Frühstadium des Morbus Bechterew.

Die Krankengymnastik sollte sich darauf konzentrieren,
dieKopfdrehbeweglichkeit und die Streckfähigkeit der Hüftgelenke zu erhalten sowie der durch falsches Liegen entstehenden Wirbelsäulenkrümmung vorzubeugen.
Wirbelsäulenchirurg Dr. Johannes Püschel,
Bechterew-Brief Nr. 64 (März 1996) S. 31