von S. D. M. Bot, M. Caspers, B. J. Van Royen, H. M. Toussaint und I. Kingma, Institut für Bewegungswissenschaften und Orthopädische Klinik der Freien Universität Amsterdam
Der Morbus Bechterew kann zur vollständigen Versteifung
der Wirbelsäule führen, unter Umständen mit
fixierter Kyphose
(Krümmung nach vorn). Als Folge der Wirbelsäulenkyphose sind
die Patienten nicht mehr in der Lage, bequem zu sitzen, zu stehen oder
zu liegen. Besonders schwer betroffene Patienten sind nicht einmal mehr
in der Lage, horizontal geradeaus zu blicken, mit entsprechend
großen Problemen bei Alltagsaktivitäten.
Vom biomechanischen Standpunkt aus betrachtet, führt die
Wirbelsäulenkyphose zu einer Vorwärts- und Abwärts-Verschiebung des
Rumpfschwerpunkts. Wenn der Patient die übrige Haltung nicht entsprechend
verändert, führt dies zugleich zu einer Vorwärts- und Abwärts-Verschiebung
des Schwerpunkts des ganzen Körpers
gegenüber der Standfläche (Bild 1a). Um den Körper
im Gleichgewicht zu halten, muss der
Patient die übrige Haltung verändern (Bild 1b). Wegen der
versteiften Wirbelsäule kommen dafür nur die beweglichen Gelenke der unteren
Gliedmaßen in Betracht: Streckung der Hüftgelenke,
Beugung der Kniegelenke und Streckung der Fersengelenke zur Fußsohle hin.
Die Streckung der Fersengelenke ist in Bezug auf die Schwerpunkts-Rückverlagerung
besonders wirkungsvoll, da eine geringere Winkeländerung genügt,
um den Schwerpunkt wieder über die Standfläche zu bekommen.
Sie verbessert jedoch kaum die Blickrichtung. Wenn die Hüftgelenke zur
Kompensation der Wirbelsäulen-Kyphose gestreckt werden, ist dazu
eine größere Winkeländerung notwendig. Trotzdem ist die
Streckung der Hüftgelenke von Vorteil, weil sie eine Rückwärtskippung
des Beckens und damit des ganzen Rumpfs bewirkt. Und je mehr der Rumpf
nach hinten geschwenkt wird, desto größer wird das Blickfeld
nach oben erweitert. Möglicherweise wird dadurch auch die
Lendenwirbelsäule entlastet. Die Kompensation der Kyphose durch Streckung der
Hüftgelenke kann jedoch unmöglich werden, wenn die Krankheit weiter
fortschreitet.
Bild 1: Die Wirbelsäulen-Kyphose führt zu
einer Vorwärts- und Abwärtsverschiebung des Rumpfschwerpunkts
(Dreieck) und damit auch des Körperschwerpunkts (Kreissymbol)
gegenüber der Standfläche (a). Der Patient verändert seine Haltung, um den Schwerpunkt wieder über die Standfläche zu bekommen (b) |
Das Wissen darum, wie Morbus-Bechterew-Patienten die Verschiebung ihres
Körperschwerpunkts ausbalancieren, kann entscheidend sein für
die Entwicklung optimaler Behandlungsmethoden. Dies gilt sowohl für
konservative Behandlungen (ohne Operation) als auch für chirurgische
Eingriffe.
Bisher ist nie eine biomechanische Untersuchung durchgeführt worden,
um die Haltung der Morbus-Bechterew-Patienten zu erforschen. Dies nachzuholen,
war der Zweck dieser Pilotstudie.
Vier männliche Morbus-Bechterew-Patienten im Alter von 28 bis
77 Jahren mit fortgeschrittener Wirbelsäulenkyphose, die eine
Aufrichtungsoperation in Erwägung zogen, nahmen an der Studie teil. Voraussetzung zur
Teilnahme war eine klassische Bambusstab-Wirbelsäule mit knöcherner
Überbrückung der Wirbelzwischenräume durch Syndesmophyten. Einer der Patienten
hatte außerdem bereits ein künstliches Hüftgelenk, ein
anderer beiderseits eine schwere Hüftgelenkbeteiligung.
Die Patienten standen barfuß auf einer Kraftmessplatte
und wurden gebeten, nacheinander die folgenden Haltungen einzunehmen, und
zwar jeweils für einige Sekunden so bewegungslos und symmetrisch wie möglich:
Die eingenommenen Haltungen wurden mit einem Videorecorder aufgenommen,
und die Gewichtsverteilung auf der Kraftmessplatte wurde laufend
mitgeschrieben.
Um die Haltung auf den Videoaufnahmen genau vermessen zu können,
trug der Patient auf der Haut kontrastreiche Markierungen an bestimmten
Stellen, die im Bild 2 zu sehen sind. Aus der Lage der Punkte
konnte die Haltung der Füße, Unterschenkel, Oberschenkel, des
Beckens, des Rumpfs, des Kopfs, der Ober- und Unterarme und der Hände genau
ermittelt werden. Außerdem wurde die Körpergröße,
das Körpergewicht und die Länge der erwähnten Körpersegmente
gemessen. Die Schwerpunkte dieser Segmente konnten daraus errechnet werden.
Bild 2: Ort der Markierungen für die Haltungsmessung |
Die Beugungs- und Streckwinkel der Hüft-, Knie- und Fußgelenke wurden mit den entsprechenden Winkeln von 18 gesunden Vergleichspersonen im Alter von 21–27 Jahren verglichen.
Der Streckwinkel des Hüftgelenks änderte sich bei den
Patienten
zwischen den Haltungen 1, 2 und 3 nur um 1–6°. Dies bedeutet, dass
die Hüftgelenke schon in der entspannten Haltung maximal gestreckt
waren. Auch in den Winkeln der Knie- und Fußgelenke wurde kein
Unterschied zwischen den ersten 3 Haltungen beobachtet.
Bei 3 der 4 Patienten waren die Hüftgelenks-Winkel in der entspannten
Haltung kleiner (Mittelwert 190°) als bei Gesunden (Mittelwert 206°).
Die Kniegelenke waren stärker gebeugt (164°, 161° und 151°)
als bei Gesunden (Mittelwert 175°). Als die Patienten aufgefordert
wurden, eine Haltung einzunehmen, in der sie den Horizont sehen können,
beugten sie die Knie noch stärker. Das von den Knien aufzubringende
Drehmoment stieg dabei bei einem Patienten von 10 auf 94 Newtonmeter und
bei einem anderen Patienten 37 auf 102 Newtonmeter. Nur ein Patient war
in der Lage, den Horizont ohne kompensierende Bewegung zu sehen. Das
Drehmoment im Knie des vierten Patienten wurde nicht gemessen.
Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass die untersuchten Morbus-Bechterew-Patienten
kaum noch in der Lage waren, ihre Hüftgelenke in entspannter Haltung
zu strecken. Drei der untersuchten Patienten hatten in aufrechter Haltung
sogar gebeugte Hüftgelenke. Sie konnten also die Wirbelsäulenkyphose
nicht durch eine Streckung der Hüftgelenke kompensieren, um das
Gleichgewicht zu behalten.
Wenn die Hüftstreckung zu sehr eingeschränkt ist, bleibt
den Patienten nur noch die Möglichkeit, das Gleichgewicht mit Hilfe
einer Beugung der Knie- und Fußgelenke aufrechtzuerhalten. Das
Stehen mit gebeugten Knien erfordert aber eine beträchtliche Anspannung
der Oberschenkel-Muskulatur, was zu einer schnelleren Ermüdung beim
Stehen führt. Noch größer wird die Anstrengung, wenn die
Patienten die Knie beugen müssen, um waagerecht geradeaus blicken zu
können.
Anschrift der Verfasser:
Faculty of Human Movement Sciences Free University of Amsterdam, Van der Boechorststraat 9, 1081 BT Amsterdam, Niederlande
Quelle:
Rheumatology 38 (1999) 441–443 (dort mit Literaturverzeichnis)
mit freundlicher Genehmigung der Oxford University Press
Leicht gekürzte Übersetzung durch Ernst Feldtkeller
Zum gleichen Thema siehe auch Dr. D. Becker-Capeller „Die Haltung
des Morbus-Bechterew-Patienten“, Bechterew-Brief Nr. 56 S. 13–16.
Dort ging es vor allem auch um die Auswirkung der Iliosakralgelenk-Entzündung
auf die Haltung im Frühstadium des Morbus Bechterew.