von Prof. Dr. med. Edward Senn, Luzern, Schweizz
Entzündungshemmende Medikamente können das Fortschreiten der Versteifung der Wirbelsäule und weiterer stammnaher Gelenke meist nicht genügend verhindern. Deshalb besteht die Notwendigkeit, nach anderen therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung des Morbus Bechterew zu suchen. Dabei steht die lebenslang fortzusetzende spezielle Bewegungstherapie im Mittelpunkt des Interesses. Auch wenn die Erkrankung in ihrem Verlauf eine Eigendynamik aufweist, besteht bei allen Menschen mit Morbus Bechterew doch ein unterschiedlich großer Spielraum, der genutzt werden kann, um zumindest einen Teil der Versteifungen zu verzögern und sogar zu verhindern.
Wer als Morbus-Bechterew-Patient die notwendige Bewegungstherapie durchführt,
aber auch wer eine derartige Bewegungstherapie vermittelt, muss sich stets
die notwendigen und realisierbaren Ziele vor Augen halten.
In erster Linie geht es darum, die Versteifung der Bewegungselemente
der Wirbelsäule und der evtl. mitbetroffenen großen Arm- und
Beingelenke zu verhindern oder zu verzögern. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass der Grad der Behinderung im Alltag weniger durch die Versteifung an
sich als durch die sich daraus ergebende, gefürchtete Kyphose (Rundrückenbildung)
bestimmt wird. Wenigstens diese Wirbelsäulenverkrümmung sollte
möglichst klein gehalten werden, wenn sich schon die Versteifung nicht
ganz verhindern lässt.
Als nächstes ist es entscheidend, die Abnahme des Trainingszustands
der Rumpfmuskulatur und der Kniestrecker mittels eines täglichen Bewegungstrainings
möglichst zu verhindern. Zwischen dem Prozess der Versteifung und
der Abnahme der Muskelleistungen besteht nämlich ein Teufelskreis:
schwache Rumpfmuskeln vermögen die Wirbelsäule nicht mehr genügend
ausdauernd aufzurichten.
© DVMB-Therapiegruppe Hagen |
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt als drittes auch die Fitness,
denn von ihr hängen die körperlichen, aber auch die willentlichen
Möglichkeiten zur Durchführung des täglichen Bewegungs-
und Trainingsprogramms ab. Darüber hinaus verfügen fitte Patienten
über mehr Leistungsreserven zur Bewältigung des Alltags.
Die Bewegungsaktivität als Gesamtleistung des Nervensystems dämpft
die Schmerzempfindung, und die Auswirkungen der häufigen Bewegungen
auf die Gewebe der Wirbelsäule und der Gelenke reduzieren die Schmerzursachen.
Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Therapie selbst und darüber
hinaus auf die Lebensqualität aus.
Die Betrachtung der aufgeführten Ziele zeigt, dass diese voneinander
abhängen und nicht isoliert betrachtet werden sollten.
Die gefürchtete Verknöcherung steht in Zusammenhang mit der Bewegungsaktivität der Patienten. Die Umwandlung einer bindegewebigen Struktur über ein knorpeliges Vorstadium zum eigentlichen Knochen wird von den einwirkenden oder eben fehlenden mechanischen Kräften gesteuert. Das Bindegewebe kann nur dann verknöchern, wenn es unter einem gleichmäßigen Druck steht und nicht mehr ständig durch wechselnde Zug- und Druckkräfte verformt und beansprucht wird. Die durch Bewegung andauernde Verformung des Bindegewebes bildet somit einen gewissen Schutz vor der Verknöcherung, und gerade darin liegt eine Chance der täglichen Bewegungsaktivität.
DVMB-Therapiegruppe Pinneberg (Pressephoto) |
Es sind nicht nur mechanische Faktoren, die über Dehnbarkeit, Geschmeidigkeit, Schmerzlosigkeit und Belastbarkeit der Strukturen des Bewegungsapparats entscheiden. Der Gesamtzustand des Nervensystems beeinflusst ebenfalls die Erhaltung, den Aufbau oder den negativen Ab- und Umbau der Gewebe. Die allgemeine Bewegungstätigkeit des Menschen, vor allem wenn sie von positiven Gefühlen, Stimmungen und Zukunftsperspektiven begleitet wird, wirkt sich über die Tätigkeit des Nervensystems vorteilhaft auf die Struktur des aktiven und passiven Bewegungsapparats aus (siehe Bechterew-Brief Nr. 67 S. 7–14).
Die Auswirkungen einer regelmäßigen Bewegungstherapie –
als Einzeltherapie, ergänzt durch wöchentliche Gruppentherapien
– sind vielfältig und jederzeit dokumentierbar. Dies zeigen Vergleiche
zu Kontrollgruppen, deren Mitglieder sich kaum aktivtherapeutisch bewegt
haben. Es existiert eine ganze Reihe gesundheitsrelevanter Messgrößen,
die den Wert und die Wirkungen einer solchen Bewegungstherapie belegen.
Es konnte insbesondere gezeigt werden, dass die Rundrückenbildung
nicht nur verzögert, sondern teilweise sogar rückgängig
gemacht werden kann. Auf Grund der besseren Aufrichtung der Wirbelsäule
können körperlich aktive Menschen mit Morbus Bechterew ihre Körpergröße
besser als die inaktiven erhalten.
© DVMB-Therapiegruppe Augsburg. Photo: Ernst Schlotter |
Ein für die Lebensqualität wichtiger Erfolgsfaktor
ist die verbesserte Atemkapazität. Sie geht auch mit einer erhöhten
Sauerstoff-Aufnahmekapazität einher, welche die wichtigste Grundvoraussetzung
für das Erbringen von Ausdauerleistungen darstellt.
Die regelmäßige Belastung der Wirbelsäule in aufrechter
Haltung mittels Bewegungsübungen (Gehen, Tanzen oder weiches Hüpfen)
vermindert messbar das Ausmaß der alters- und krankheitsbedingten
Knochenverarmung innerhalb der Wirbelkörper, die Wirbelsäulen-Osteoporose.
Wirbelkörper-Kompressionsfrakturen (auf Drucküberlastung
beruhendes Zusammenbrechen von Wirbelkörpern, insbesondere an der
Vorderkante unter der Last der Krümmung, siehe Bechterew-Brief
Nr. 58 S. 3–10), die eine Folge der Osteoporose
und des Rundrückens sind, treten bei aktiven Morbus-Bechterew-Patienten
weniger häufig auf als bei inaktiven. Jeder verhinderte Einbruch eines
Wirbelkörpers stellt einen positiven Baustein für die Möglichkeit
dar, eine aufrechte Wirbelsäule zu behalten.
Aktive Patienten vermögen auf Grund ihres allgemeinen Fitnesszustands
die Schmerzschwelle derart zu erhöhen,
dass sie im Alltag bei gleicher Belastung schmerzärmer leben können
oder bei gleichem Schmerzzustand leistungsfähiger bleiben. Die tägliche
Aktivität fördert auch einen gesunden und erholsamen Schlaf,
der die Gewebe des Bewegungsapparats regenerieren hilft.
Die spezifische Bewegungstherapie muss drei Hauptebenen berücksichtigen:
Die Ausdauerleistungsfähigkeit insbesondere der Rumpf-, aber auch der Gesamtkörpermuskulatur, um Haltungsbeanspruchungen und immer wiederkehrende Bewegungen im Alltag über längere Zeit garantieren zu können. Der Aufbau eines Ausdauertrainings setzt eine Mindest-Kraftentwicklung voraus.
© DVMB-Therapiegruppe Hemer. Photo: Armin Bastisch |
Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass die grundlegenden Ziele der
Bewegungstherapie nur erreicht werden können, wenn die Betroffenen
täglich im Sinne des Übens, des Dehnens und des Trainings am
eigenen Körper arbeiten. Als Anleitung, Stütze und Hilfe nehmen
die von den DVMB-Therapiegruppen durchgeführten
Gruppentherapiestunden eine zentrale Bedeutung ein. Dort kann das spezielle
Bewegungstraining einmal pro Woche unter der Aufsicht einer Fachkraft,
die spezifische Weiterbildungskurse absolviert hat, in der Gruppe durchgeführt
werden.
Es gilt zu bedenken, dass Menschen mit Morbus Bechterew ihr ganzes
Leben lang möglichst aktiv sein müssen. Wird ein Trainingsprogramm
über Jahre ohne fachgerechte Kontrollen durchgeführt, können
sich negative Verhaltensweisen einschleichen. Deshalb ist die professionelle
Beobachtung und die Möglichkeit für die Physiotherapeuten, korrigierend
einzugreifen, als Ergänzung zum täglichen Heimprogramm unabdingbar.
Gleichzeitig wird in der Gruppe die Motivation für das tägliche
Heimtraining verstärkt.
© DVMB-Therapiegruppe Kronach (Pressephoto) |
Das Training in der Gruppe weist noch weitere positive Aspekte auf:
Im Gespräch nach der Gruppentherapie können eigene Probleme,
Ängste und Zukunftssorgen formuliert und an den Meinungen und Reaktionen
der Gruppenmitglieder gespiegelt werden. Der Einzelne gewinnt dadurch eine
gewisse innere Sicherheit seines eigenen Standpunkts im nicht immer einfachen
und oftmals schmerzhaften Leben.
Der Erfahrungsaustausch innerhalb
der sich regelmäßig zu Trainingszwecken treffenden Gruppe dient
auch dem Austausch über die reichhaltigen Angebote konkreter Hilfeleistungen
für die Bewältigung der so zahlreichen gesundheitlichen und persönlichen
Probleme.
Die Lebensqualität und Zufriedenheit
hängt vom Eingebundensein in eine tragfähige Gemeinschaft ab.
Dieses notwendige soziale Netzwerk darf sich nicht auf die Familie allein
beschränken. Es soll auch Menschen umfassen, die mit ähnlichen
Problemen zu kämpfen haben. Die Gruppe, in der sich die Betroffenen
regelmäßig treffen, vermag jedes einzelne Mitglied auch durch
schwerere gesundheitliche und psychische Phasen hindurch mitzutragen.
Die Dynamik der Gemeinschaft und die ganzheitlichen Auswirkungen der
Gruppentherapie auf die Gesundheit machen diese zu einem unabdingbaren
Bestandteil der Bewegungstherapie bei Morbus Bechterew.
Anschrift des Verfassers: Stadthofstr. 3, CH-6004 Luzern, Schweiz
Quelle: Vertical (Schweizerische Vereinigung Morbus Bechterew) Nr. 8 (April 2001)
Die Bilder wurden von der -Redaktion eingefügt.