Aus dem Bechterew-Brief Nr. 91 (Dezember 2002)

Auswirkung der Arbeitsbedingungen auf den Krankheitsverlauf bei Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew)

von Dr. med. Francis Guillemin, Dr. med. Serge Briançon, Dr. med. Jacques Pourel und Dr. med. Alain Gaucher, Rheumaklinik der Universität Nancy, Frankreich

In Leserbriefen werden wir manchmal gefragt, welche Arbeits- und Umweltbedingungen für den Verlauf des Morbus Bechterew förderlich bzw. abträglich sind. Auch bei juristischen Auseinandersetzungen darüber, ob Wehrdienst, Gefangenschaft oder eine bestimmte Berufstätigkeit den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflusst haben könnten, spielen solche Fragen eine Rolle. Wir drucken deshalb die Übersetzung des bereits im Bechterew-Brief Nr. 85 S. 84 zitierten Beitrags ab, der zu diesen Fragen Stellung nimmt.

Im Verlauf einer Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) können Wirbelsäulen- und periphere Gelenkschäden zu unterschiedlich ausgeprägter Behinderung führen. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben zu ermitteln versucht, welche Befunde bei der Spondylitis ankylosans eine ungünstige Prognose (Vorhersage) für eine spätere Behinderung bedeuten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass eine schwere Behinderung häufiger ist bei Patienten mit Hüftgelenk-Beteiligung, mit Schäden in anderen peripheren (außerhalb der Wirbelsäule liegenden) Gelenken oder mit einer starken Wirbelsäulenverformung. Eine Augen- oder Herzbeteiligung wird dagegen nicht immer als schlechtes Vorzeichen betrachtet. Eine geringere Behinderung wird oft bei weiblichen Patienten beobachtet. Laborwerte wie der IgA-Wert scheinen keine Bedeutung für die Prognose zu haben. Auch der Erbfaktor HLA-B27 hat keine Auswirkung auf den Krankheitsverlauf.Auch die Art der Berufstätigkeit zu Beginn der Krankheit wurde in die Untersuchungen einbezogen. Einer körperlichen Berufstätigkeit wurde eine ungünstige Vorhersage zugeschrieben, wobei sich die Vorhersage verbessert, wenn es dem Patienten gelingt, zu einer körperlich weniger anstrengenden Tätigkeit zu wechseln. Die Aussichten auf eine dauerhafte Berufstätigkeit bleiben jedoch gut, unabhängig von der Schwere des Krankheitsverlaufs und der Krankheitsdauer. Welche persönlichen und beruflichen Einflussgrößen für eine spätere Behinderung von Bedeutung sind, bleibt schwierig einzuschätzen.Wir haben in unserer Studie versucht, die Auswirkungen beruflicher und krankheitsbedingter Faktoren im Frühstadium der Spondylitis ankylosans auf eine spätere Behinderung und Minderung der Erwerbsfähigkeit zu ermitteln.

Patienten und Methode

An 367 Patienten, die die New-York-Kriterien für eine Spondylitis ankylosans erfüllten und zwischen 1977 und 1987 in unserer Klinik behandelt wurden, wurde 1987 ein Fragebogen verschickt. Er wurde von 302 Patienten beantwortet. Nach dem Aussortieren unvollständig beantworteter Fragebögen bildeten 182 Patienten (49,6% der Angeschriebenen) die Basis unserer Studie. Der Fragebogen umfasste Fragen zum Krankheitsverlauf (Anzahl und Verteilung der betroffenen Gelenke in und außerhalb der Wirbelsäule, eingenommene Medikamente und physikalische Therapie) und zur Berufstätigkeit der Patienten.Unter den Antwortenden befanden sich 5,9 mal so viele Männer wie Frauen. Das mittlere Erkrankungsalter betrug 28 Jahre und die mittlere Krankheitsdauer zu Beginn der Studie 14 Jahre. Die Diagnoseverzögerung (der zeitliche Abstand zwischen den ersten Symptomen und der Diagnose) lag zwischen drei Monaten und 20 Jahren. Der Mittelwert betrug 3 Jahre. 81% der Patienten waren HLA-B27-positiv. 72% hatten Gelenkbeteiligungen außerhalb der Wirbelsäule (darunter 51% eine Beteiligung der Hüftgelenke). 3% hatten sich einer Hüftgelenkoperation unterzogen. Alle Patienten waren noch berufstätig. Die meisten Patienten hatten zu Krankheitsbeginn unter mindestens einer körperlich beeinträchtigenden Bedingung gearbeitet (Tabelle 1).

Tabelle 1: Arbeitsbedingungen der 182 antwortenden Spondylitis-ankylosans-Patienten zu Krankheitsbeginn

Körperlich belastende Arbeit *)  50,3%
Kälte ausgesetzt  54,3%
Nässe ausgesetzt 56,4%
Tragen schwerer Lasten 57,3%
längere Zeit Arbeit im Stehen *) 79,6%
unregelmäßige Arbeitszeiten 38,8%
Arbeit im Sitzen *)  18,2% 

*) Unter den im Jahre 1996 von der DVMB befragten Morbus-Bechterew-Patienten hatten nur 4% eine schwere körperliche Tätigkeit, nur 8% eine meist stehende und 54% eine meist sitzende Tätigkeit, Anmerkung der Redaktion

Maße für den Krankheitsverlauf

Folgende Verlaufsparameter wurden bestimmt: Bewegungseinschränkungen, längere Fehlzeiten und die Zuerkennung einer Erwerbsfähigkeitsminderungs-Rente (in Deutschland Erwerbsunfähigkeitsrente“, abgekürzt EU-Rente) auf Grund der Krankheit.
Die Bewegungseinschränkungen wurden mit Hilfe des 1980 an der Stanford-Universität eingeführten Gesundheitsfragebogens (HAQ = Health Assessment Questionnaire) ermittelt. Er umfasst 8 Alltags-Tätigkeiten: Anziehen, Aufstehen, Essen, Gehen, Hygiene, Erreichen, Greifen, und Grundaktivitäten. Für unsere Studie wurden 2 weitere Fragen hinzugefügt, um Einschränkungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit besser zu erfassen, nämlich „Können Sie Ihren Kopf nach rechts und links drehen?“ und „Können Sie nach oben schauen?“. Der Behinderungs-Index wurde als Mittelwert der Antworten auf alle Fragen errechnet (wie bei dem im Bechterew-Brief Nr. 88 S. 18 beschriebenen Bath Ankylosing Spondylitis Functional Index (BASFI), Anmerkung der Redaktion). Fehlzeiten und EU-Rente wurden in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer erfasst. Nach den französischen Sozialgesetzen wird eine EU-Rente zuerkannt, wenn die Erwerbsfähigkeit auf ein Drittel reduziert ist. Die Zuerkennung ist also ein Indiz für eine erhebliche Behinderung.

Ergebnisse

Zwischen dem Behinderungsindex und der Krankheitsdauer bestand eine signifikante Korrelation. Der Behinderungsindex war höher in der Gruppe von Patienten, die eine EU-Rente erhielten, und in der Gruppe von Patienten, die zu Krankheitsbeginn eine nichtsitzende Tätigkeit ausübten, vor allem, wenn sie nicht umgeschult wurden. Eine Tätigkeit, die mit längerer Arbeit im Stehen oder mit dem Tragen schwerer Lasten verbunden war, hatte keinen signifikanten Einfluss auf den Behinderungsindex. Längere Fehlzeiten traten bei 32,3% der Patienten auf und schienen statistisch unabhängig von der Erwerbsfähigkeitsminderung zu sein. Sie hingen dagegen signifikant ab von der Anzahl der betroffenen Gelenke und vom Tragen schwerer Lasten.

Tabelle 2: Häufigkeit längerer Fehlzeiten in den ersten 5 Krankheitsjahren bei Patienten mit Spondylitis ankylosans

Mehr als 2 periphere Gelenke beteiligt ja
nein
57%
22%
beruflich Kälte ausgesetzt   ja 
nein
54%
 24%
beruflich Nässe ausgesetzt ja 
nein
50%
24%
Tragen schwerer Lasten ja 
nein
46%
27%

Die Häufigkeit längerer Fehlzeiten in den ersten 5 Krankheitsjahren ist in der Tabelle 2 dargestellt. Sie war hoch bei einer Beteiligung von mehr als 2 Gelenken außerhalb der Wirbelsäule (Bild 1), bei Patienten, die im Beruf  Kälte oder Nässe ausgesetzt waren, und bei einer Tätigkeit, die mit dem Tragen schwerer Lasten verbunden war.

Bild 1: Kumulierte Häufigkeit langer Fehlzeiten für 65 Patienten
mit Beteiligung von mehr als 2 peripheren Gelenken (––––) und 39 Patienten
mit Beteiligung von höchstens 2 peripheren Gelenken (- - - -), in
Abhängigkeit von der Krankheitsdauer

Bild 1: Kumulierte Häufigkeit langer Fehlzeiten für 65 Patienten mit Beteiligung von mehr als 2 peripheren Gelenken (––––) und 39 Patienten mit Beteiligung von höchstens 2 peripheren Gelenken (- - - -), in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer

36% der Patienten erhielten eine EU-Rente. Unter diesen hatten sich viele einer Hüftoperation unterziehen müssen. Die Häufigkeit einer EU-Rente nach 20 Krankheitsjahren ist in Tabelle 3 dargestellt. Sie hing weniger von Krankheitsparametern als von den Arbeitsbedingungen zu Beginn der Krankheit ab. Besonders die Einwirkung von Kälte bei der Berufstätigkeit, fehlende berufsfördernde Rehabilitationsmaßnahmen (Umschulung, Berufswechsel, siehe Bild 2), längere Arbeiten im Stehen (Bild 3) und eine nicht sitzende Tätigkeit erhöhten die Wahrscheinlichkeit einer späteren Langzeit-Behinderung (Tabelle 3).

Bild 2: Kumulierte Häufigkeit der Zuerkennung einer EU-Rente für
50 Patienten ohne Rehabilitationsmaßnahme (–––) und 88 Patienten
mit berufsfördernder Rehabilitation (- - -), in Abhängigkeit
von der Krankheitsdauer

Bild 2: Kumulierte Häufigkeit der Zuerkennung einer EU-Rente für 50 Patienten ohne Rehabilitationsmaßnahme (–––) und 88 Patienten mit berufsfördernder Rehabilitation (- - -), in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer

Bild 3: Kumulierte Häufigkeit der Zuerkennung einer EU-Rente für
104 Patienten mit längerer Arbeit im Stehen (––––) und 28 Patienten
ohne längere Arbeit im Stehen (- - - -), in Abhängigkeit von
der Krankheitsdauer

Bild 3: Kumulierte Häufigkeit der Zuerkennung einer EU-Rente für 104 Patienten mit längerer Arbeit im Stehen (––––) und 28 Patienten ohne längere Arbeit im Stehen (- - - -), in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer

Schlussbemerkungen

Die Verwendung der Patienten einer Klinik ist möglicherweise nicht ohne Einfluss auf die Ergebnisse der Studie: Dadurch sind Patienten mit einem schwereren Krankheitsverlauf möglicherweise überrepräsentiert. Bei Studien zur Krankheitshäufigkeit ist ein solcher Einfluss unbedingt zu berücksichtigen. Welche Rolle dieser Einfluss in einer Untersuchung zum Krankheitsverlauf hat, ist schwer abzuschätzen.Längere Fehlzeiten erfassen den unmittelbaren Einfluss der Krankheit auf die Berufstätigkeit und stellen den ersten Schritt in Richtung auf die Erfassung einer Langzeit-Behinderung dar. Sie beruhen bei der Spondylitis ankylosans meist auf Entzündungsschüben. MARKS, BARNETT und CALIN stellten 1983 in einer Studie fest, dass männliche Patienten häufiger stark behindert sind als weibliche. Nach unseren Ergebnissen hat das Geschlecht keine Bedeutung für das Eintreten längerer Fehlzeiten oder einer Langzeitbehinderung.In anderen Studien wurde festgestellt, dass Spondylitis-ankylosans-Patienten mit schwerer körperlicher Arbeit häufiger erwerbsunfähig werden. Ob dies auf der Unzuträglichkeit der Tätigkeit oder auf einem schwereren Krankheitsverlauf beruht, ist schwer zu entscheiden. Möglicherweise trägt die Art der Tätigkeit zur Entstehung von Sehnenansatzentzündungen bei (siehe Bechterew-Brief Nr. 91 S. 15–20). Unsere Ergebnisse sprechen für eine solche Hypothese.PASTUSZKO veröffentlichte 1975 die Ergebnisse einer Untersuchung an 300 Arbeitern und fand, dass ein früher Krankheitsbeginn, Arbeit bei schlechtem Wetter, lange Anfahrzeiten zur Arbeit und wiederholte Verletzungen ungünstige Voraussetzungen bezüglich des Eintritts einer Erwerbsfähigkeitsminderung darstellen. Dass ein früher Krankheitsbeginn ein ungünstiges Zeichen darstellt, wurde durch unsere Studie nicht bestätigt, vielleicht weil jung Erkrankte leichter eine ihrer Situation angemessene Tätigkeit finden können.

Tabelle 3: Häufigkeit einer Langzeitbehinderung (Zuerkennung einer EU-Rente) nach 20 Krankheitsjahren

beruflich Kälte ausgesetzt  ja
nein
54%
32%
Berufsberatung und Umschulung ja
nein
35%
52%
längere Arbeit im Stehen ja
nein
54%
65%
körperlich anstrengende Tätigkeit im Sitzen
nicht sitzend
21%
 49%

Die Identifizierung von Faktoren, die den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen, ist von großer Bedeutung, denn eine entsprechende Beratung und Umschulungsmöglichkeiten können die Häufigkeit einer Erwerbsfähigkeitsminderung unter Spondylitis-ankylosans-Patienten herabsetzen.

Bechterew-Brief Ende

Anschrift der Verfasser: Clinique de Rhumatologie, Centre Hôpitalier Universitaire de Nancy-Brabois, F-54500 Vandœuvre-les-Nancy

Quelle: „Long-term disability and prolonged sick leaves as outcome measurements in ankylosing spondylitis“.
Arthritis and Rheumatism 33 (Juli 1990) S. 1001– 1006 (dort mit umfangreichem statistischem Zahlenmaterial und ausführlichem Literaturverzeichnis).
Gekürzte Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Feldtkeller