Aus dem Morbus-Bechterew-Journal Nr. 99 (Dezember 2004)

Physikalische Therapie bei Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew)
innerhalb und außerhalb des Heilmittelkatalogs

von Dr. med. Joachim-Michael Engel, Bad Liebenwerda

Die Projektgruppe Physikalische Medizin und Rehabilitation der Arbeitsgemeinschaft Regionaler Kooperativer Rheumazentren in der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie veröffentlichte im Jahre 2003 ein Konsensus-Papier mit Empfehlungen zur Verordnung physikalischer Therapie bei den drei Krankheiten rheumatoide Arthritis, Spondylitis ankylosans und progressive systemische Sklerose. Wir bringen hier einen Auszug mit den Teilen, die die Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) betreffen. Siehe auch "Morbus-Bechterew-Therapie im Wasser".

Für die medizinische Akutbehandlung und für die Rehabilitation von Patienten mit rheumatischen Erkrankungen sind physikalisch-therapeutische Maßnahmen ganz wesentlich. Die physikalische Medizin hat die älteste Tradition in der Behandlung entzündlich-rheumatischer Krankheiten und ist auch im heutigen Therapiekonzept einer umfassenden Rehabilitation wesentlich. Die physikalischen Reize (mechanisch, thermisch, elektrisch) beeinflussen rheumatisch veränderte Gewebe und deren Funktionsstörungen.
Die Beweglichkeit und Lebensqualität der Patienten wird nicht nur vom entzündlich akuten Zustand beeinträchtigt. Daher müssen physikalisch-therapeutische Behandlungen vom Krankheitsbeginn bis zu einer Normalisierung oder zum sicheren Erhalt der körperlichen Funktionalität fortgeführt werden. Der Einsatz der physikalischen Therapie ist in der Rheumatologie sowohl unter kurativer (heilender) als auch rehabilitativer (auf eine möglichst normale Teilhabe am gesellschaftlichen und Berufsleben gerichteter) Zielstellung elementar.
Die Palette möglicher physikalisch-therapeutischer Maßnahmen, Techniken und Konzepte ist um ein Vielfaches reichhaltiger als die für die Behandlung rheumatischer Krankheiten zur Verfügung stehenden Arzneimittel. Dennoch wird im rheumatologischen Alltag der physikalischen Therapie zumeist eine untergeordnete, bestenfalls unterstützende Bedeutung zugemessen.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Aufgrund gravierender Defizite in der studentischen Ausbildung sowie in der ärztlichen Weiterbildung wird dem Rheumapatienten eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst wirksame physikalische Therapie vielfach vorenthalten.
Mit den folgenden Ausführungen wird eine strukturierte Hilfe zur Verordnung physikalisch-therapeutischer Maßnahmen vorgelegt. Diese Zusammenstellung wurde notwendig, nachdem die Heilmittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nach §92 Abs. 1 Nr. 6 SGB V zur normgebenden Grundlage der vertragsärztlichen Heilmittelverordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung geworden sind. Die Heilmittelrichtlinien bestimmen maßgeblich die Versorgung der Bevölkerung und damit auch der Rheumakranken mit Physikalischer Therapie.
Die ärztliche Verordnung physikalischer Therapie wird durch die Heilmittelrichtlinien an definierte Voraussetzungen gebunden, wobei nicht die Diagnose die Verordnung begründet, sondern die „Schädigung und Funktionsstörung“. Allerdings sind die Beschreibungen des Schädigungsbilds bzw. der Funktionsstörung und die Definition des zur Verordnung führenden Therapieziels für die Rheumatologie zu allgemein gehalten und daher in vielen Fällen nicht zweckmäßig. Dies hat zu erheblichen Irritationen der verordnenden Ärzte geführt. Die Einteilung der Verordnung in „vorrangig" bzw. „optional“ zu verordnende und „ergänzende“ Heilmittel wird weder dem Schädigungsmuster noch den komplexen Funktionsstörungen noch der Chronizität des Krankheitsverlaufs rheumatischer Krankheiten gerecht. Die Gliederung der Diagnosen sowie der Schädigungen und Funktionsstörungen im Heilmittelkatalog ist mit der Realität rheumatischer Krankheitsbilder nicht vereinbar.
Die vorliegende, in einem mehrstufigen Konsensprozess erarbeitete Zusammenstellung der physikalischen Therapie für die ankylosierende Spondylitis soll es ermöglichen, die unverzichtbare Verordnung physikalisch-therapeutischer Maßnahmen adäquat zu gestalten. Die Zusammenstellung gilt für alle Bereiche praktizierter Rheumatologie, ambulant oder stationär.
Die  physikalisch-therapeutischen Verfahren wurden in der tabellarischen Übersicht gegliedert in solche, die im Heilmittelkatalog empfohlen werden und solche, die im Heilmittelkatalog zwar enthalten sind, aber nicht explizit für diese Indikation angegeben werden.
Zusätzlich wurden als adjuvante Verfahren Methoden der physikalischen Medizin aufgeführt, die nicht im Heilmittelkatalog enthalten sind, aber sinnvoll sind und von Experten bereits erfolgreich im Sinne positiver Therapieeffekte eingesetzt wurden.
Spektakuläre Verfahren oder therapeutische Maßnahmen ohne rationale Grundlage finden in dieser Übersicht keine Berücksichtigung.

Tabelle 1: Zusammenstellung der Empfehlungen zur physikalischen Medizin bei Spondylitis ankylosans. 
KG = Krankengymnastik, ÜB = Übungsbehandlung, jeweils im Trockenen oder im Bewegungsbad;
* zusätzliche Maßnahmen
  Therapieziele Physikalische Therapie nach Heilmittelkatalog 2004 Physikalische Therapie außerhalb des Heilmittelkatalogs
1) akuter Schub mit vorwiegendem Befall der Wirbelsäule und der Iliosakralgelenke Schmerzreduktion durch Entlastung der betroffenen Strukturen und Entzündungshemmung
  • KG (segmentale Stabilisation)
  • ÜB

Adjuvante (ergänzende) Verfahren: 

  • Kältetherapie (z. B. Eiskompressen, Kaltluft, Wickel, Peloide)
  • Ganzkörperkältetherapie (Kältekammer),
  • TENS,
  • milde Bewegungsbadwärme,
  • Peloide (kalt – milde Wärme),
  • Radontherapie (Bäder, Inhalation),
* Stöckli-Wickel
2a) akuter Schub mit vorwiegendem Befall  peripherer Gelenke Schmerzreduktion; Reduktion von Schwellung und Entzündung; Wiederherstellung/Besserung der gestörten Beweglichkeit; Vermeidung von Kontrakturen (Muskelverkürzungen)
  • Elektrotherapie (z. B. diadynamische Ströme, Zellenbäder),
  • KG/manuelle Therapie,
  • ÜB

adjuvante (ergänzende) Verfahren:

  • Kältetherapie (z. B. Eiskompressen, Kaltluft, Wickel, Peloide)
  • Wärmetherapie (z.B. Ultraschall, Kurzwelle, Peloide)
  • manuelle Traktion bei großen Gelenken,
  • klassische Massage
  • Bindegewebsmassage
  • Radontherapie (Bäder, Inhalation)
2b) akuter Schub mit vorwiegendem Befall von Sehnenansätzen Regulierung von Schmerz und Reizung; Verbesserung der Durchblutung; Wiederherstellung/Besserung der gestörten Beweglichkeit
  • klassische Massage
  • KG/manuelle Therapie (z. B. deep friction nach Cyriax)
  • ÜB

adjuvante (ergänzende) Verfahren:

  • Kältetherapie (z.B. Eiskompressen, Kaltluft, Wickel, Peloide)
  • Wärmetherapie (z.B. Ultraschall, Kurzwelle, Peloide)
  • Phonophorese (Ultraschall und Arzneimittel),
  • lontophorese (Galvanisation und Arzneimittel),
  • Radontherapie (Bäder, Inhalation)
3) chronischer Verlauf mit vorwiegendem Befall der Wirbelsäule ohne weitgehende Einsteifung Verbesserung der Beweg­lichkeit des Thorax, der HWS, BWS und LWS; Stabilisierung der Wirbelgelenke; Regulierung der schmerzhaften Muskelverspannung, des Stoffwechsels und der Durchblutung; Wiederherstellung/Besserung der gestörten Muskelfunktion
  • KG (segmentale Stabilisation/manuelle Therapie, Atemtherapie, KG mit Gerät),
  • ÜB
  • klassische Massage

adjuvante (ergänzende) Verfahren:

  • Wärmetherapie (z.B. Ultraschall, Kurzwelle, Peloide),
  • Elektrotherapie (z.B. Stangerbad, Interferenzstrom, diadynamische Ströme)
  • Ganzkörperkältetherapie (Kältekammer),
  • Kältetherapie (z.B. Eiskompressen, Kaltluft, Wickel, Peloide),
  • Unterwasserdruckstrahlmassage,
  • Überwärmungsbad, Sauna,
  • Radontherapie (Bäder, Inhalation),
  • medizinische Trainingstherapie,
  • Bewegungsbad, Aqua-Jogging,
  • Rollenlagerung
4a) chronischer Verlauf mit vorwiegendem Befall peripherer Gelenke Wiederherstellung/Besserung der gestörten Gelenkbeweglichkeit; Regulierung von Muskelspannung, -stoffwechsel und -durchblutung; Wiederherstellung/Besserung der gestörten Muskelfunktion; Vermeiden von Kontrakturen (Muskelverkürzungen)
  • KG/Atemtherapie (z.B. KG im Bewegungsbad, lokale Stabilisierung, lokale Mobilisierung)
  • ÜB
  • manuelle Therapie (Gelenkspieltechniken), klassische Massage,
  • Bindegewebsmassage

adjuvante (ergänzende) Verfahren:

  • Traktion großer Gelenke,
  • Elektrotherapie (z.B. hydrogalvanisches Teil- oder Vollbad),
  • Wärmetherapie (z.B. Ultraschall, Kurzwelle, Peloide, Heißluft),
  • Kältetherapie (z.B. Eiskompressen, Kaltluft, Wickel, Peloide)
  • niederfrequenter Ultraschall,
  • Ganzkörperkältetherapie (Kältekammer),
  • Radontherapie (Bäder, Inhalation),
4b) chronischer Verlauf mit vorwiegendem Befall von Sehnenansätzen Regulierung von Schmerz und Reizung; Verbesserung der Durchblutung; Wiederherstellung/Besserung der gestörten Beweglichkeit
  • Elektrotherapie
  • Kältetherapie (z.B. Eiskompressen, Kaltluft, Wickel, Peloide),
  • KG/manuelle Therapie (deep friction nach Cyriax)
  • ÜB

adjuvante (ergänzende) Verfahren:

  • Wärmetherapie (Ultraschall),
  • Bindegewebsmassage/klassische Massage
  • Phonophorese (Ultraschall und Arzneimittel),
  • lontophorese (Galvanisation und Arzneimittel),
  • Radontherapie (Bäder, Inhalation)

Die Entscheidung über die Aufnahme in diese Übersicht wurde im Konsens der Projektgruppe und auf Grund der verfügbaren Literatur getroffen. In diesem Zusammenhang muss angemerkt werden, dass für Methoden der physikalischen Therapie die Evidenz (Gewissheit) nicht geringer ist als für viele Arzneimittel. Kontrollierte oder placebo-kontrollierte Studien zur physikalischen Therapie sind ungleich schwieriger durchführbar. Jedoch ist die therapeutische Wirksamkeit physikalischer Medizin empirisch (durch Erfahrung) belegt, teilweise seit Jahrhunderten, und konnte bislang auch durch kontrollierte Studien nicht widerlegt werden.
Damit ist die tabellarische Zusammenstellung der physikalischen Therapie bei Spondylitis ankylosans in ihren unterschiedlichen Stadien und Verläufen eine Empfehlung für die tägliche Verordnung.

Anschrift des erstgenannten Verfassers: Rheuma-Poliklinik im EPIKUR-Zentrum für Gesundheit, Südring 6, 04924 Bad Liebenwerda

Quelle: Gekürzte und aktualisierte patientengemäße Fassung des Artikels „Physikalische Medizin in der Rheumatologie – differential-indikative Verordnung bei rheumatoider Arthritis, ankylosierender Spondylitis und progressiver systemischer Sklerose“ von J.-M. Engel, C. Uhlemann, W. Berg und U. Lange für die Projektgruppe  Physikalische Medizin und Rehabilitation  der Arbeitsgemeinschaft Regionaler Kooperativer Rheumazentren in der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie.
Aktuelle Rheumatologie 28 (2003) 218–224 (dort mit ausführlichem Literaturverzeichnis)

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