Aus dem Morbus-Bechterew-Journal Nr. 98 (September 2004)

Eine neue Hypothese zur Entstehung von Autoimmunerkrankungen, die mit dem HLA-B27 verknüpft sind

Patientenverständliche Fassung der mit dem DVMB-Forschungspreis 2004 gewürdigten wissenschaftlichen Arbeit

von Dr. rer. nat. Maria Diedrichs-Möhring und Privatdozentin Dr. rer. nat. Gerhild Wildner, Arbeitsgruppe Immunbiologie, Augenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Trägerinnen des DVMB-Forschungspreises 2004

Einleitung

Die Zellen des Immunsystems, die weißen Blutkörperchen, haben normalerweise die Aufgabe, uns vor Krankheitserregern zu schützen. Sie haben dafür verschiedene Strategien entwickelt: B-Lymphozyten (kurz „B-Zellen“) bilden Antikörper, die Krankheitserreger erkennen, binden und auf verschiedenen Wegen ausschalten können. T-Lymphozyten (T-Zellen) können infizierte Zellen (bei einer Virusinfektion) oder auch fremde Zellen (Transplantatabstoßung) direkt angreifen. Die T-Zellen weisen eine Besonderheit auf: Sie erkennen „Fremdes“ nur im Zusammenhang mit eigenen Eiweißmolekülen, den HLA-Molekülen (Humanes Leukozyten-Antigen), die auf nahezu allen Zellen unseres Körpers vorhanden sind. Diese Eiweißmoleküle werden in verschiedene Gruppen (HLA-A, -B, -C) unterteilt, wobei es in jeder Gruppe eine große Anzahl verschiedener Varianten gibt. Jeder Mensch besitzt von jeder Gruppe zwei verschiedene Moleküle, von denen er eines von der Mutter und eines vom Vater geerbt hat. Diese bilden ein individuelles, charakteristisches Muster auf Gewebezellen, vergleichbar mit der individuellen Blutgruppe eines Menschen.
Diese gewebsständigen Eiweißmoleküle (HLA-Moleküle) spielen bei der Immunantwort, also bei der Abwehr von Bakterien, Viren und sonstigen Fremdstoffen eine wichtige Rolle, indem sie dem Immunsystem die Fremdstoffe in Form von kleinen Eiweiß-Bruchstücken wie auf einem Tablett „präsentieren“.
Unsere T-Zellen haben auf ihrer Oberfläche andere spezielle Moleküle („Rezeptoren“), die das fremde Eiweiß-Bruchstück auf dem HLA-Molekül erkennen. Eiweißmoleküle („Proteine“) bestehen aus Aminosäuren, von denen es 20 verschiedene gibt, die für die unterschiedlichsten Eiweiße in immer wieder anderer Reihenfolge kombiniert werden. Jedes Eiweiß hat also eine bestimmte Aminosäure-Sequenz (Abfolge).
Die aus wenigen Aminosäuren bestehenden Protein-Bruchstücke werden „Peptide“ genannt. Werden Peptide den T-Lymphozyten von einem Gewebsantigen präsentiert, kann dies zur Aktivierung der Zellen des Immunsystems und so zu einer Immunreaktion führen. Stammen die Peptide von einem Krankheitserreger, ist diese Immunabwehrreaktion erwünscht. Stammen die Peptide aber von einem körpereigenen Protein, sollten sie toleriert werden, da sonst eine Autoimmunerkrankung ausgelöst werden kann.
Bei einer Autoimmunerkrankung wie dem Morbus Bechterew kommt es zu einigen Fehlregulationen im Immunsystem, so dass unser Immunsystem sich nicht nur gegen fremdes Eiweiß, sondern auch gegen körpereigene Strukturen richtet. Patienten mit Morbus Bechterew besitzen besonders häufig ein bestimmtes Gewebsantigen, das HLA-B27. Dies legt die Vermutung nahe, dass das HLA-B27-Molekül in irgendeiner Weise mitverantwortlich für diese Fehlregulation sein könnte.
Tatsächlich werden nicht nur Fremdeiweiße in Bruchstücke (Peptide) zerlegt. Auch körpereigene Eiweißmoleküle werden ständig erneuert, die alten Moleküle abgebaut und in Peptide zerlegt (Bechterew-Brief Nr. 82 S. 7–13). Normalerweise sieht unser Immunsystem diese Fragmente nicht als fremd an, sondern „toleriert“ sie. Unter bestimmten Umständen kann es aber vorkommen, dass ein körpereigenes Peptid einem Fremd-Peptid (zum Beispiel aus einem Erreger) sehr ähnlich ist und vom Immunsystem mit diesem verwechselt und angegriffen wird.
Auch HLA-Moleküle selbst werden, wie andere Eiweißmoleküle, zum Abbau in Fragmente zerlegt. Das heißt, sie dienen zum einen der Präsentation der Peptid-Antigene, können aber auch selbst Antigene sein.

Wirkung von HLA-B27-Peptiden

Vor einiger Zeit konnten wir zeigen, dass T-Zellen von Morbus-Bechterew-Patienten in der Lage sind, ein HLA-B27-Peptid (B27PA genannt) zu erkennen, während weiße Blutzellen von gesunden Personen auf dieses Peptid nicht reagieren.
Aber warum kommt es ausgerechnet zu einer Arthritis (Gelenkentzündung) und in bestimmten Fällen zu einer Iritis (Entzündung der Augen-Regenbogenhaut)? Möglicherweise kommt es hier noch zu einer Verwechslung des HLA-B27-Peptids mit einem Fragment des Strukturproteins Cytokeratin (Ker333). Die Peptide B27PA und Ker333 ähneln sich in ihrer Aminosäure-Abfolge. Cytokeratin kommt hauptsächlich in Gelenken, im Auge, in der Haut und interessanterweise auch im Darm vor. Eine Immunreaktion auf Ker333 könnte also möglicherweise eine Arthritis, Iritis, Psoriasis (Schuppenflechte) und/oder Colitis (entzündliche Darmerkrankung) auslösen.
In Versuchen an unseren Ratten konnten wir zeigen, dass beide Peptide, B27PA und Ker333, eine massive Arthritis in verschiedenen Pfotengelenken sowie in der Schwanzwirbelsäule auslösen können.
Vergleicht man die Aminosäure-Sequenzen der beiden Ursprungsproteine HLA-B27 und Cytokeratin in der unmittelbaren Nachbarschaft der Peptide B27PA bzw. Ker333, so findet man weitere ähnliche  bzw. gleiche Aminosäuren in beiden Proteinen. Bei Verlängerung des Peptids B27PA um 12 Aminosäuren (B27.60-84) erhielten wir ein Peptid, das zu unserer Überraschung eine deutlich stärkere Arthritis auslöste als das kürzere Peptid B27PA. Dies warf die Frage auf, ob dieses Peptid in zwei pathogene (krankheitsverursachende) Peptide zerlegt wird, man also die doppelte Antigenmenge zur Verfügung hätte, oder ob die verstärkte Arthritis auf einem anderen Mechanismus beruht. In der wissenschaftlichen Literatur ist dieses verlängerte Peptid unter dem Namen „Allotrap“ bekannt. Von diesem Peptid wurde beschrieben, dass es eine immunregulatorische Funktion hat. Im Tierversuch blockiert es eine bestimmte Untergruppe der T-Zellen und hemmt so z.B. die Abstoßung von Haut- oder Herztransplantaten. In diese Untergruppe von T-Zellen gehören, neben den zytotoxischen (zelltötenden) Zellen, die für Virusabwehr und Transplantatabstoßung verantwortlich sind, auch sogenannte „Suppressorzellen“, die das Immunsystem dämpfen und maßgeblich daran beteiligt sind, dass (auto)immune Reaktionen „in Schach gehalten werden“. Werden diese Zellen in ihrer Funktion behindert, verlaufen (auto)immune Reaktionen heftiger oder können überhaupt erst ausgelöst werden.

Uveitis als Modellkrankheit

Wenn die Verstärkung der Immunreaktion durch „Allotrap“ auf einem Mechanismus beruht, der anscheinend unabhängig von der Arthritis ist, so müssten wir diesen Verstärkungseffekt auch bei anderen Autoimmunerkrankungen sehen. Hierzu haben wir als Modell die autoimmune Uveitis gewählt, an der wir schon seit vielen Jahren arbeiten. Die autoimmune Uveitis ist eine Entzündung des inneren Auges, die die Regenbogenhaut (Iris) und /oder die Netzhaut betrifft (Bechterew-Brief Nr. 75 S. 26–28, Bechterew-Brief Nr. 84 S. 3–8, Morbus-Bechterew-Journal Nr. 94 S. 6–9). Die Zerstörung der empfindlichen Strukturen wie Lichtrezeptoren und Nervenzellen führt zur Sehverschlechterung und in manchen Fällen sogar zur Erblindung. Im Tiermodell von Ratte oder Maus kann die experimentelle autoimmune Uveitis (EAU) durch Immunisierung (eine Art „Impfung“, durch die eine Immunantwort angeregt wird) mit bestimmten Eiweißmolekülen aus dem Auge (retinale, d.h. aus der Netzhaut stammende Autoantigene) oder ihren Fragmenten (Peptiden) ausgelöst werden.
Wir haben nun untersucht, ob die gleichzeitige Immunisierung von Ratten mit augentypischem Peptid (retinalem Peptid) und „Allotrap“ zu einer Verstärkung der Entzündung im Auge führt. Tatsächlich war dies der Fall (Bild 1). Auch T-Zellen, die wir aus immunisierten Tieren isoliert hatten, reagierten in der Zellkultur stärker auf ihr spezifisches, zur Immunisierung benutztes Antigen-Peptid, wenn zusätzlich „Allotrap“ in die Kulturschalen gegeben wurde. In den Zell-Kulturen befand sich ein Gemisch aus Effektor-T-Zellen (die eine autoimmune Reaktion auslösen können) sowie regulatorischen (Suppressor-) Zellen, die die Effektor-Zellen hemmen. Wir interpretieren diese Beobachtung als eine Unterdrückung der Suppressor-T-Zellen (siehe oben), die normalerweise den Ausbruch von Autoimmunerkrankungen verhindern. Funktioniert diese Regulation nicht mehr, kann eine autoaggressive Immunreaktion ungehindert und somit heftiger ablaufen.

Bild 1: Werden Lewis-Ratten (ein Ratten-Stamm, der sehr empfänglich für Autoimmunerkrankungen ist) mit einem Gemisch aus Augenpeptid und dem HLA-B27-Peptid (Allotrap) immunisiert, so wird eine deutlich stärkere Augenentzündung beobachtet als nach alleiniger Immunisierung mit Augenpeptid.

 

Orale Toleranz

Im nächsten Schritt wollten wir untersuchen, ob wir mit “Allotrap” auch solche Suppressorzellen unterdrücken können, die wir gezielt für therapeutische Zwecke aktivieren. Solche Suppressorzellen können z.B. durch „orale Toleranz“ erzeugt werden. Die orale Toleranz ist ein wichtiger immunologischer Mechanismus, der verhindert, dass das Immunsystem sich auch gegen Nahrungsmittelproteine wendet, was bei jeder Nahrungsaufnahme zu einer Entzündung im Magen-Darm-Trakt führen würde (siehe G. Wildner, Bechterew-Brief Nr. 84 S. 9–12). Ein Versagen der oralen Toleranz kann Nahrungsmittel-Allergien oder sogar Autoimmunerkrankungen zur Folge haben.
In unseren Versuchen an Ratten werden die Tiere mit dem augen-spezifischen Autoantigen gefüttert und anschließend immunisiert, um die Uveitis experimentell auszulösen (Bild 2). Wir sehen eine deutliche Verminderung der Erkrankung in gefütterten im Vergleich zu nicht mit Antigen gefütterten Tieren. Durch die Verabreichung des Autoantigens über den Magen-Darm-Trakt werden spezifische Suppressorzellen aktiviert, die die autoimmune Reaktion hemmen. Werden die Tiere dagegen mit einer Mischung aus Autoantigen und „Allotrap“-Peptid gefüttert, ist die Intensität der Uveitis zwar im Vergleich mit den nicht-gefütterten Ratten etwas abgeschwächt, aber die Erkrankung war deutlich heftiger als in den Gruppen mit alleiniger Fütterung von Autoantigen. Wir konnten also beobachten, dass „Allotrap“ auch eine negative Auswirkung auf die Aktivierung von Suppressorzellen im Magen-Darm-Trakt hat, d.h. offensichtlich einen breiten Effekt auf verschiedene Suppressorzelltypen ausüben kann.

Bild 2: Allotrap stört die orale Toleranzinduktion: Das Füttern von Augen-Peptid kann verhindern, dass eine anschließende Immunisierung mit diesem Peptid eine Entzündung im Auge hervorruft (orale Toleranz). Wird aber das Peptid „Allotrap“ zu dem Augen-Peptid hinzugefüttert, so erkranken die Tiere trotzdem, da Allotrap die Suppressorzellen behindert, die die orale Toleranz verursachen

 

Wir haben für unsere Experimente ein synthetisiertes „Allotrap“-Peptid verwendet, vermuten aber, dass auch aus dem natürlichen HLA-B27-Molekül unter bestimmten Vorraussetzungen das „Allotrap“-Peptid herausgeschnitten werden kann. Dieses Peptid könnte zum einen direkt eine Arthritis auslösen, da es den Bereich enthält, der mit Cytokeratin verwechselt wird und autoaggressive T-Zellen aktiviert, andererseits enthält es einen Abschnitt, der Suppressor-T-Zellen unterdrückt (Bild 3). Letztere halten vielleicht gerade die Balance zwischen notwendiger Infektabwehr und unerwünschter überschießender Immunreaktion aufrecht, und eine Störung dieses Gleichgewichts durch Beeinträchtigung der Suppressorzellen könnte dann die ungehinderte Ausprägung einer Autoimmunreaktion zur Folge haben. Dies wäre eine zusätzliche Erklärung, warum besonders das HLA-B27-Molekül mit seiner „Allotrap“-Sequenz so häufig bei Patienten mit bestimmten Autoimmunerkrankungen wie dem Morbus Bechterew zu finden ist. Die Ergebnisse eröffnen neue Wege für die Erforschung der Ursachen der Autoimmunreaktion beim Morbus Bechterew. Eine genaue Kenntnis der Mechanismen der Erkrankung ist hilfreich bei der Entwicklung neuer Therapien.

Ohne Allotrap:

Bild 3: Vermutete Wirkung von Allotrap auf die Funktion regulatorisch wirkender Zellen des Immunsystems (ohne Allotrap).

Mit Allotrap:

Bild 3: Vermutete Wirkung von Allotrap auf die Funktion regulatorisch wirkender Zellen des Immunsystems (mit Allotrap).

 

 

Morbus-Bechterew-Journal Ende